PEER GYNT feiert im Schauspielhaus eine effektvolle Premiere mit Tiefgang
Der Hausregisseur Simon Solberg hatte in den letzten Wochen Einiges zu tun: Gleich zwei Premieren gab es im Februar. Zu Beginn feierte MNEMON auf der Werkstattbühne Premiere; am 22. Februar Henrik Ibsens (1828 – 1906) PEER GYNT auf der großen Bühne im Schauspielhaus.
Ibsen nennt seinen Peer Gynt ein „dramatisches Gedicht“. Hier mag man stutzen, da man doch von einem Theaterstück ausgeht. Das ist es auch, jedoch hat es Ibsen in Reimen verfasst, wie es beispielsweise der französische Theaterschriftsteller Racine bei seinen Stücken getan hat, oder auch Goethe bei seinem Faust. Das ist nicht nur anspruchsvoll, sondern unterstreicht den märchenhaften Anteil der Geschichte, die wie sein Autor in Norwegen spielt. Regisseur Simon Solberg und Dramaturgin Male Günther haben den Text stark gekürzt, dabei aber wesentliche Mono- und Dialoge stehen gelassen, zum Teil von etwas altbackenen Formulierungen befreit und modernisiert. Dennoch tritt der ursprüngliche Text nicht völlig in den Hintergrund. Bei den Kürzungen hat sich Regie und Dramaturgie vielleicht sogar von Ibsen selbst inspirieren lassen. Schließlich schrieb Ibsen (wie man dem Programmheft entnehmen kann) an den Komponisten Edvard Grieg, der das Stück als Oper vertonen sollte und er auch tat, einige Vorschläge, wo er sich Kürzungen vorstellen konnte. Dem folgend fiel der vierte Akt fast vollständig weg, der fünfte sollte stark gekürzt werden – so ist es auch in der Bonner Inszenierung geschehen.
Die wundersame Geschichte um den im wörtlichen Sinne Tunichtgut Peer Gynt beginnt in Ibsens Heimat Norwegen, zieht dann aber (ähnlich wie bei Faust II) in ferne Länder, landet gar in einer Irrenanstalt, um am Ende wieder in der alten Heimat anzukommen. Der Grund für Peers Reise oder eher Flucht liegt in zweierlei begründet: Zum einen hat er durch eine Reihe von Lügen, Alkoholexzessen und der Entführung einer Braut das ganze Heimatdorf gegen sich aufgebracht, zum anderen verfolgt er von Kinderbeinen an den Wunsch Kaiser zu werden. Die Lügen und der Kaiserwunsch entspringen wahrscheinlich den Märchen, die seine Mutter ihn immer vorgelesen und erzählt hatte. Sein bereits verstorbener Vater war ein dorfbekannter Trunkenbold, der kurz vor seinem Tod seinen Hof runtergewirtschaftet hatte, so dass Mutter Gynt Schulden drücken. Peer ist kein harmloser Träumer, obwohl er sich in das fromme und liebe Mädchen Solvejg verliebt. Diese hegt auch Gefühle für Peer. Doch aus den beiden wird nichts, da Peer Hals über Kopf das Land verlässt bzw. verlassen muss, als er sich in einer trunkenen Nacht mit einem Trollweib einlässt. In Norwegen sind die Trolle brutale und hässliche Naturwesen mit Zauberkräften, denen man besser nicht begegnen sollte. Als ihm das Trollweib verspricht, dass er der König des Trollreiches wird, ist der selbstsüchtige Peer bereit, die Trollfrau zu ehelichen. Dafür muss er sich ebenfalls in einen Troll verwandeln. Die Anlagen dazu hätte Peer bereits in sich, verrät sie ihm. Beinahe vollzieht er die Verwandlung, doch als Peer sein Augenlicht opfern soll, sodass er für immer im Trollreich gefangen bliebe, macht er einen Rückzieher. Seine Freiheit sei ihm doch wichtiger. Tief gekränkt verfolgt ihn das Trollweib und so verlässt er Solvejg, um sie vor dem Monster, das auch in ihm selbst lauert, zu schützen.
Es gibt noch wesentlich mehr Charaktere in diesem Stück als bisher genannt wurden. Die Bonner Inszenierung lässt kleinere Rollen weg, bis auf Peer Gynt sind alle anderen Rollen mehrfach besetzt.
Die Hauptrolle des Peer Gynt verkörpert Timo Kählert in vielseitiger Weise: am überzeugendsten, wenn er aufgrund seiner Alkoholexzesse in tiefe Selbstzweifel, in Ängste und Nöte fällt. Als Peer nach seiner Flucht in fremden Landen zu Reichtum gelangt, wird er zu seinem wohlhabenden, skrupellosen „König“ – in der Inszenierung ein rappender Gangsterkönig, Den musikalischen Teil der Rolle meistert er ohne Schwierigkeiten, doch der sonst eher freundliche Typ Kählert wirkt als abgebrühter Gangsterrapper nicht ganz überzeugend. Das ist aber die einzige Ausnahme.

Hervorzuheben ist sicher auch die Leistung von Alois Reinhardt, obwohl er eigentlich „nur“ mehrere Nebenrollen bedient, fällt er besonders im Kontrast zwischen verführerischem Trollweib und dem nerdigen Rivalen/Freund Mads auf. Verführung und Gefahr, die sich in dem Trollwesen spiegeln, kehrt Reinhardt in aller Deutlichkeit hervor.
Auch Lydia Stäubli spaltet sich in mehrere (Frauen-)Figuren auf: In die sitzengelassene und racheübende Ingrid – Ex-Freundin Peers, die er an ihrem Hochzeitstag entführt; in die naturverbundene, aber ebenfalls in den Konventionen der Familie gefangenen Solvejg. Ingrid, die nicht auf den Mund gefallen ist, macht Peer im schönsten Schweizer Dialekt die Hölle heiß, als sie merkt, dass er sie (wie später die Trollfrau) sitzen lässt, was ungemein komisch ist. Als Solvejg scheint Stäubli jedoch wie ihre Figur nicht aus der Enge der norwegischen Bergwelt entfliehen zu können. Sie ist brav, lieb, etwas gutgläubig, dadurch ist sie etwas blass, wenn sie auch sehr sympathisch gespielt wird. Daher ist Stäublis Auftritt als Insassin einer Heilanstalt der eigentliche schauspielerische Höhepunkt.
Birte Schrein als Mutter Gynt zeigt eine Frau, die alles Finanzielle und Materielle durch ihren Ehemann verloren hat, von den Dorfleuten verlacht und von ihrem Sohn dauernd belogen wird, wenn auch in teils guter Absicht. Sie ist schwach und stark zugleich. Sie tadelt Peer unentwegt für seine Lügerei, liebt ihn aber dennoch so innig, dass sie ihm sogar den Brautraub verzeiht. Verarmt und krank, stirbt sie bei einer letzten imaginierten Schlittenfahrt mit ihrem Sohn.
Sehr viel Präsenz hat auch Wilhelm Eilers auf der Bühne. Mal als Brautvater, dann als Schmied, zwischendurch mutiert er zum Alter Ego Peers. Eilers hat dabei sichtbar Spaß die selbstbewusste Seite seiner Figuren zu betonen und wirkt daher auch als der gedoppelte Gangsterrapper-König sehr überzeugend.
Solberg greift in den Stoff des Peer Gynts vor allem durch einen psychologischen Trick ein, der der Inszenierung von der ersten bis zur letzten Minute eine besondere Richtung gibt: Er lässt Bernd Braun in der Rolle des toten Vaters Peers auftreten. Dieser Geist, zum Vater gesellt sich dann auch seine später verstorbene Mutter, verfolgt ihn und kommentiert oft mit einer unangenehmen weissagerischen Überlegenheit sein Tun. Es sind die Geister der Vergangenheit – der saufende Vater und die märchenerzählende Mutter, die Peer maßgeblich geformt haben. Diese Interpretation ist klug gewählt. Seit der Publikation des Stückes gab es schon viele Ansätze, die die Frage nach dem Selbst stellen, die sich aus zwei Zitaten aus dem Stück herleiten lassen und die Solberg und Günther durch die Kürzungen sogar noch mehr betonen. Das eine stammt vom Trollkönig: „Bei den Menschen heißt’s: ‚Mann, sei du selber!‘ Hier drinnen bei uns, nach trollischem Fug heißt es: ‚Troll, sei dir selber – genug!‘“ Peers innerer Troll wird ihn unentwegt begleiten. In dem zweiten Zitat stellt Peer kurz vor seinem Ende fest, dass er wie eine Zwiebel aus lauter Schichten besteht, er aber egal wie viele Schichten er auch versucht abzulegen, nicht bis zu seinem Herz vorzudringen vermag. In der Übersetzung von Hermann Stock (Reclam) klingt das dann so: „Du bist kein Kaiser; du bist Lauch. Nun will ich dich schälen, mein lieber Peer![…] Nein so eine Vielzahl (Anmerkung: von Zwiebelhäuten)! Schicht liegt auf Schicht. Kommt denn nicht einmal ein Kern ans Licht?“
Neben den Peer verfolgenden Geistern wird die düstere Stimmung durch die lebensunfreundliche Atmosphäre des Bühnenbildes (ebenfalls Solberg), der mystischen Lichteffekte (Boris Kahnert) und die die Inszenierung begleitende Live-Musik erzeugt. Philip Mancella und Sue Schlotte treffen die richtigen Töne zu dem industriell anmutenden Bühnenbild: Große Baugerüste, die mal Haus, mal Berg, mal Schiff und vieles mehr sind, spiegeln eine kalte leere Welt. 2016 inszenierte Solberg Büchners WOYZECK in der damaligen Halle Beuel – auch wenn es zwischen den beiden Inszenierungen deutliche Unterschiede gibt, ist die erzeugte bedrohliche Stimmung ähnlich. Dazu passen die zeitgenössischen Kostüme (Katja Strohschneider), nur Solvejg trägt warme Fellkleider, wie sie in noch viel früherer Zeit in Norwegen getragen wurden. Sie wirkt wie der von der Zivilisation (und deren Konsumwahnsinn) unberührte und autarke Naturteil Norwegens.
Aufgrund schneller Szenen- und Rollenwechsel braucht der Zuschauer manchmal einen Moment, um sich im Geschehen zurecht zu finden, dennoch kann man der Handlung insgesamt gut folgen, selbst wenn man das Stück nicht kennt.
Die Mischung aus psychologisierendem Spiel, der Suche nach sich selbst, Musik und Bühnenshow geht auf. Peer Gynt wird zwar nicht neu erfunden, aber die Inszenierung weist bis auf kleinere Schwächen ein durchdachtes Konzept auf und kann Begeisterung wecken. Ein Besuch auch gerade für Jugendliche und Schulklassen wird wärmstens empfohlen.
Rebecca Telöken
