Das Moving Targets Ensemble inszeniert auf der Bühne der Brotfabrik mit wenig Requisiten, aber viel Lust am Spiel Beth Henleys „Crimes of the Heart“
Dass Schwestern ein sehr inniges aber auch kompliziertes Familiengefüge bilden, ist spätestens seit Lousia May Alcotts „Little Women“ oder Anton Čechovs „Drei Schwestern“ bekannt. Über das Wiedersehen dreier Schwestern schrieb auch die Hierzulande kaum bekannte Dramatikerin Beth Henley (*1952) ein Stück mit dem Titel CRIMES OF THE HEART. Henley stammt aus Mississippi und erhielt 1981 für CRIMES OF THE HEART den Pulitzer-Preis für Theater*. Fünf Jahre später erschien das Stück auch als Kinoverfilmung, in Deutschland unter dem Titel „Verbrecherische Herzen“. Es war für den Oskar nominiert und erhielt einen Golden Globe. Seitdem scheint es etwas in Vergessenheit geraten zu sein und es ist dem Ensemble Moving Targets (s. Info unten) zu verdanken, dass es nun wieder auf der Bühne der Brotfabrik Bonn in englischer Sprache für kurze Zeit zu sehen war.
In dem fiktiven Ort Hazelhurst, einer verschlafenen Kleinstadt, wo jeder jeden kennt und alle über alles Bescheid wissen, lebt Lenny Magrath (Rebecca Zett). Eine nicht mehr ganz junge Frau, mondän angezogen in karierter Bluse und Jeans. Normalerweise lebt sie mit ihrem Großvater zusammen, den sie pflegt, aber ausgerechnet an diesem Tag – ihrem Geburtstag – geht alles schief. Der Großvater muss ins Krankenhaus, das beliebte Nachbarspferd Billy Boy wird einen Tag zuvor vom Blitz erschlagen. Kein Wunder, dass sie sich darauf einstellt alleine mit sich zu feiern.
Zu allem Überdruss kommt da ihre Nachbarin und Cousine Chick Boyle (Sabine Becker-Hogenschurz) vorbei. Sie schenkt Lenny zwar zum Geburtstag Pralinen, allerdings nicht weil sie Lenny so mögen würde, sondern vor allem um sich über Lennys Schwester Meg (Imke Lichterfeld) auszulassen, deren freies künstlerisches Leben für die Spießbürgerin ein reines No-Go ist. Besagte Meg ist gerade auf dem Weg zu Lenny, allerdings auch nicht, wegen deren Geburtstags, sondern eher zwangsläufig. Die jüngere und wilde Schwester wollte eigentlich eine Karriere als Sängerin in Hollywood beginnen, schaffte aber den Absprung nicht. Um Geld zu verdienen, sang sie in einem Club, den sie aber verliert, als sie plötzlich nicht mehr singen kann. Abgebrannt bleibt ihr fast nichts anderes übrig, als nach Hause zu kommen.

Über der Vergangenheit der Schwestern liegt ein schweres Schicksal. Der Vater, ein Typ mit blendend weißen Zähnen, aber keiner weißen Weste, hat ihre Mutter verlassen, die daraufhin Selbstmord beging. Meg fand sie und kämpfte daraufhin mit der Erinnerung. Lenny und Meg haben ein gespaltenes Verhältnis zueinander, da sie gegensätzliche Pole bilden. Mag, die Draufgängerin, lebensfroh und bei den Männern beliebt und Lenny, die sich immer um alles kümmert, aber selbst kein Leben hat und so gut wie keine Erfahrungen mit Männer bzw. der Liebe hat. Besonders bei Lenny regt sich eine gewisse Eifersucht auf die jüngere Schwester, die in ihren Augen immer bevorzugt wurde.
Das Chaos ist perfekt, als auch noch ein Telefonanruf mit der Nachricht eintrifft, dass die dritte Schwester im Bunde Becky – genannt Babe (Esther Takats) – ihren Ehemann Zackery Botrelle erschossen haben soll. Also fast. Sie habe ihm in den Bauch geschossen, weshalb er im Krankenhaus liegt. Auf die Frage, warum sie das getan hat, antwortet sie immer nur mit süffisanten Lächeln „I didn’t like his looks“. Das das nicht alles sein kann, ist den Schwestern und auch dem engagierten Rechtsanwalt Barnette Llyod (Nikesh Trecarten) klar. Llyod führt einen eigenen Rachefeldzug gegen Zackery , der seinen Vater in den Ruin getrieben hatte. Um den ganzen noch eine Schippe drauf zu setzen, ruft Megs alte Liebe „Doc“ Porter (Christopher Nott-Held) an. Diesen hatte Meg für ihre Karriere sitzen gelassen, woraufhin er wohl sein geplantes Medizinstudium hat sausen lassen. Mittlerweile ist er jedoch verheiratet, hat zwei Kinder und sowohl Lenny als auch die nervige Chick sehen es nicht gerne, als Mag und Doc sich für eine Mondscheintour treffen. Und das sind längst nicht alle Probleme, die noch auf die drei Schwestern zukommen.

In dem Stück treffen sich viele gescheiterte Lebensentwürfe, von denen es vielleicht Babe am Härtesten getroffen hat. Neben den Problemen, die das menschliche Zusammenleben, gerade in der Familie betreffen, fließen aber auch die Themen Rassismus und häusliche Gewalt ein. Dennoch ist es kein hoffnungsloses oder gar trauriges Stück. Im Gegenteil es gibt viele Momente, in denen das Publikum lachen kann, selbst über tragische Ereignisse wie dem zweiten Schlaganfall des Großvaters. Dann gibt es auch berührende Momente, wenn Lenny z. B. alleine auf dem Sofa vor einem von ihr selbst mitgebrachten Törtchen, jenes anzündet auspustet, wieder anzündet auspustet und dabei für sich selbst „Happy Birthday“ singt. Jeder versteht, dass es hier um Einsamkeit und nicht Selbsbeweihräucherung geht.
Henleys Stück zeigt, wie drei Frauen, drei Schwestern, trotz aller Querelen und Streitigkeiten, Verletzungen und Liebespech zusammenhalten, einen Weg für sich suchen, mit dem Risiko auch den falschen Weg einzuschlagen. Dabei wachsen sie teilweise über sich hinaus oder entdecken ihre Schwachstellen.
In der Inszenierung von Petra Brockmann ist man nah an der damaligen Zeit. Es gibt keine Modernisierungen wie z. B. Handynachrichten anstelle von Briefen. Das hätte dem Stück, das in gewissen Teilen seiner Zeit verhaftet ist, vielleicht auch nicht gut getan.
Alles spielt zudem in einem einzigen Raum: Dem Wohnzimmer oder vielleicht besser dem Wohnbereich: eine alte Couch, eine Kochnische, ein einfaches Bett. Der Zuschauer erfährt nur, was dort stattfindet. Alle Geschehnisse, die sich außerhalb dieser vier Wände abspielen, können nur durch die Nacherzählungen der Protagonisten und den Gesprächsfetzen der Telefonate erfahren werden. So bleibt der Zuschauer über viele Dinge immer ein Stück weit im Unklaren z. B. was zwischen Meg und Doc passiert. Auch Babes Mann bleibt ohne Rolle, persönlich meldet er sich nur einmal am Telefon. Es ist sozusagen immer dem Zuschauer überlassen, in wie weit er den Figuren glaubt. Auch bietet das Stück zum Schluss kein „Happy End“ im eigentlichen Sinne, es lässt vielmehr den Ausgang des Geschehens in vielen Teilen offen, sodass der Zuschauer sich selbst fragen muss, welche Fortsetzung diese Geschichte wohl nehmen würde.
Die Schauspielerinnen Zett, Lichterfeld und Takats bringen den Humor wunderbar an das Publikum. Das doch insgesamt gut zweistündige Stück hat dadurch keine Längen. Mit zunehmender Dramatik wird auch das Spiel der Schauspielerinnen und Schauspieler expressiver, besonders Megs Überschwang nach ihrem Treffen mit Doc und Babes Verzweiflung im Angesicht des kommenden Gerichtsprozesses. Laientheater hat immer seinen ganze eigenen Charme, da die Spielerinnen und Spieler neben ihren eigentlichen Jobs ihr Herzblut in die Entwicklung der Stücke legen. In englischer Sprache ist das – möglicherweise auch trotz aller Sprachbegabtheit – eine zusätzliche Herausforderung, denn hier müssen die Spieler sich so artikulieren, dass der Zuschauer dem Stück folgen kann. Meiner Meinung nach ist das hier sehr gut gelungen. Das Moving Targets Ensemble, das wahrscheinlich etwas weniger bekannt ist als die Bonn University Shakespeare Company, zeichnet sich positiv durch die Altersdiversität der Schauspieler ab, was zumindest ich als Zuschauer als sehr wohltuend empfunden habe, da Erfahrung, Energie und Charaktere ein inspirierendes Ganze bildeten. Das englischsprachige Theater ist ein Erlebnis und auch Lehrer sollten überlegen, ob nicht zusätzlich zu dem Besuch der jährlich einmal in Bonn gastierenden American Drama Group nicht auch ein Besuch dieser kleinen Ensembles für den Englischunterricht eine Bereicherung wäre.
Das Stück war vom 24. März bis 26. März 2023 in der Brotfabrik zu sehen. Weitere Infos zu kommenden Theateraufführungen in der Brotfabrik findet ihr auf der Website.
Rebecca Telöken
Zum Moving Targets Ensemble
Das Theaterensemble Moving Targets wurde 2017 von Mitgliedern der Bonn University Shakespeare Company und den Bonn Players gegründet. Die Gruppe arbeitet projektorientiert und hat sich zum Ziel gesetzt, zeitgenössische (anglophone) Stücke für kleinere Besetzungen zu produzieren. Zu den bisherigen Produktionen gehören „The Last of the Haussmans“ von Stephen Beresford und „The Last Days of Judas Iscariot“ von Stephen Adly Guirgis, die beide die erste Inszenierung des jeweiligen Stücks in Deutschland überhaupt darstellen.
*Pulitzer-Preis für Drama: Der Preis wird jährlich durch eine Jury an das beste Theaterstück oder Musical vergeben. Unter den Preisträgern waren z. B. Thronton Wilder (u. a. Our Town), Tennessee Williams (A Streetcar Named Desire), Arthur Miller (Death of a Salesman) und bei den Preisträgerinnen u. a. Marsha Norman (night, Mother), Lynn Nottage (Ruined) und Suzan-Lori Parks (Toodog/Underdog). Zuletzt hat ihn James Ijames für sein Stück „Fat Ham“ erhalten. Am 8. Mai werden die diesjährigen Preisträger verkündet. Mehr Infos auf der Website.