WIE WIR UNS SELBST BETRÜGEN

Premiere auf der Werkstattbühne Bonn am 3. Februar

Das titelgebende, schwer über die Lippen zu bekommende Wort MNEMON (Betonung auf e) basiert auf dem Altgriechischen. Und tatsächlich gibt es bereits im 8. Jh. v. Chr. eine Gruppe von Menschen, die Mnemones – „Merker“ heißen. Ihre Aufgabe ist es, das Archiv der Bürger zu sein – ihr „Gedächtnis“.

Es geht also in dem Stück um die Erinnerung, um das Archivieren von Information. Hier spielt das menschliche Gedächtnis und damit verknüpft das Gehirn die zentrale Rolle.
Die Bühne ist dementsprechend gestaltet: antiquierte Möbel, eine große Standuhr und Aktenschränke bestimmen das Bild. Drei Schreibtische sind frontal auf die Zuschauer gerichtet (Bühne: Simon Solberg). Noch bevor ein Mensch zu sehen ist, ertönt eine Lautsprecherstimme, die den Zuschauern Fragen wie aus dem Lehrbuch der Psychoanalyse stellt: „Was macht Ihr Sein/Wesen aus? Warum sind Sie hier? Wann war der Punkt Ihrer Entscheidung?“ Noch bevor sich die Zuschauer zu den Fragen nähere Gedanken machen können, purzeln aus Schränken und der Uhr Alois, Paul und Sandrine. Sie tragen weiße Kleidung, die stark an die von Krankenhauspersonal erinnert, irgendwie klinisch (Kostüme: Annika Garling). Doch anstatt auf der berühmten weißen Liege des Herrn Freud in das tiefste Innere ihrer Patienten einzudringen, haben die drei ganz eigene Probleme: Sie sind für die Archivierung des Kollektiven Gedächtnisses der Gesellschaft zuständig. Sie sind sozusagen die modernen Mnemones. Keine leichte Aufgabe. Denn wonach sucht man aus, was in dieses Gedächtnis eingespeist werden soll? Woran sollten sich immer alle erinnern? Daher bekommt der Zuschauer ein recht flaues Gefühl, als alle Ordner, die die drei aus den Schränken ziehen, leer sind. Doch bald stellen sich den drei Archivaren noch ganz andere Probleme, die noch viel grundsätzlichere Fragen aufwerfen: Können wir uns überhaupt erinnern und ist das, an das wir uns erinnern nicht eine gewollte Halluzination unseres Gehirns? Treffen wir häufig falsche Entscheidungen, weil wir unser Hirn immer den bereits einmal beschrittenen Weg gehen lassen, ohne es zu zwingen, neue Wege auszuprobieren?

Über diese und viele andere Fragen der heutigen Neurologie geraten die drei immer wieder in Streit. Wetteifern mit Experimenten und Wissen oder kapitulieren vor dem Nicht-Wissen. Das ist, um Fontane zu zitieren, „ein weites Feld“.

Aus der Zeit gefallen? Alois Reinhardt klettert aus der Standuhr.
Foto (c) Thilo Beu

Diese durchaus gesellschaftsrelevanten Fragen hätten den Grundstein für eine Vielzahl von Geschichten bilden können, die sich mit den einzelnen Aspekten beispielhaft beschäftigen. Leider wird diese Möglichkeit nicht genutzt, was schade ist, denn dass es dadurch neue Perspektiven auf unser Zusammenleben geben kann, zeigte bspw. der niederländische Regisseur Michel van der Aa in seiner Filmoper UPLOAD (2021). Natürlich ist es nur eine Möglichkeit, wie zwischenmenschliche Schicksale aufgrund der neuen naturwissenschaftlichen und technischen Entdeckungen auf unser konkretes Leben einwirken können. Denn die drei Mnemones entfalten zwar das gesamte Spektrum der Problematik von Gehirn, Gedächtnis, dem Vergessen, Schein und Trug, aber eher auf eine wissenschaftliche deduzierende Weise, ohne persönlich betroffen zu sein oder den Zuschauer in eine persönliche Betroffenheit zu führen.

Was heißt das? Es wird viel erklärt, wie in einer Wissenschaftsshow im Vorabendprogramm oder einem Podcast. Fachbegriffe werden eingeführt und mit lustigen Sketches, rockiger Musik und Stroboskop-Effekten visualisiert (Licht: Jorge Delgadillo, Jana Erbeling, Ewa Górecki; Ton: Dimitrij Uvagin). Da werden, wie bereits erwähnt, Experimente am Kollegen durchgeführt, wie z. B. die Puppenhand-Illusion, bei dem erst mit einem Pinsel über die echte Hand des Probanden gestrichen wird und dann über die Hand einer Puppe, und der Proband dennoch das Gefühl hat, es wäre seine. Das ist unterhaltsam, faszinierend und interessant, lässt staunen. Aber außer, dass man sich auch dank der im Programmheft noch einmal erläuternden Fachbegriffe anschließend durchaus gut informiert fühlt, mangelt es dann doch am inneren Aufbegehren oder um dem Fortschritt nicht nur negative Folgen anzulasten, dem Frohlocken über diese schöne neue Welt; oder irgendeiner anderen Regung, die die Relevanz fester in das – da ist es wieder – Gedächtnis verankern würden.

Das Gemeinschaftsstück Mnemon von Regisseur Simon Solberg und dem Ensemble des Schauspiels Bonn ist ehrgeizig. Die Schauspieler*innen Alois Reinhardt, Paul Michael Stiehler und Sandrine Zeller sind gut aufgelegt und mit ganzem Körpereinsatz dabei, besonders Reinhardt und Stiehler wetteifern geradezu miteinander, während Zeller die verbindende Instanz ist, die alle Mnemones trotz Neckereien und Zank zusammenhält.

Die Materialfülle, die von Jan Pfaffenstiel (Dramaturgie) zusammengetragen und ausgewertet wurde, war erheblich, das Zustandebringen eines Textes sicher nicht unproblematisch. Dem Zuschauer wird einiges Geboten, und einiges von ihm verlangt in den kurzen 90 Minuten. Dennoch erschließt sich (zumindest der Rezensentin) aus dem Abend nicht, worin der Unterschied zu den bereits angesprochenen Vorabend Wissenschaftsshow besteht. Denn witzige Effekte zeigen diese und auch der streitlustige Austausch zwischen verschiedenen Protagonisten ist mittlerweile ein gängiges Mittel. Vielleicht sind diese offensichtlichen Parallelen gewünscht, ein Funke springt damit nur zwischendurch über, da sehr viele unterschiedliche Fässer aufgemacht werden. Die wirklich ernsten Themen werden am Ende doch seltsam weggelächelt, oder um mit dem Stück zu sprechen, wir betrügen uns selbst. Die Mnemones wählen den bequemsten Weg, wenn sie feststellen, dass irgendwie doch alles nicht ganz so schlimm ist – zumindest in Hinblick auf das Vergessen. Denn das Vergessen ist natürlich. Wie es mit den anderen Themen um Manipulation und Schutz der Gedanken aussieht, sei dahingestellt.

Rebecca Telöken

Paul Michael Stiehler, Alois Reinardt und Sandrine Zenner .URAUFFÜHRUNG – MNEMON von Simon Solberg und Ensemble REGIE und BÜHNE: Simon Solberg / KOSTÜME Annika Garling / LICHT: Ewa Górecki / DRAMATURGIE: Jan Pfannenstiel PREMIERE: 03.02.2023, WERKSTATT Foto: (c) Thilo Beu
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