Kalt wie ein Fisch

(Vorschaubild (c) Thilo Beu)

Henrik Ibsens „Die Frau vom Meer“ feierte am 30. März in den Bonner Kammerspielen Premiere

Ellida Wangel und ihre Stieftöchter Bolette und Hilde haben sich kaum etwas zu sagen. Ihr Mann, der optimistische und harmoniebedürftige Bezirksrat Doktor Wangel, erkennt in der melancholischen Ellida nicht mehr die Frau, in die er sich einst verliebt hat. Oberlehrer Arnholm ist bei seinem Besuch der Familie in der Funktion eines provisorischen Psychologen einem Irrtum erlegen und der naive Träumer Lyngstrand reitet sich selbst mit seiner grenzenlosen Ehrlichkeit immer wieder in die Bredouille.

Die Inszenierung von Henrik Ibsens Stück unter der Regie von Martin Nimz scheint keinen stringenten roten Faden zu haben. Sie baut sich eher aus einem Geflecht von Fäden auf, die immer neue Aspekte und Fragestellungen aufwerfen, aber alle irgendwie ins Nichts führen. So kommt es einem zumindest als Zuschauer vor. Die einzige ersichtliche Konstante ist die Zerrissenheit der unglücklichen Ellida zwischen freiheitlicher Autonomie und Geborgenheit bietender Sicherheit, personifiziert durch ihren Mann auf der einen und einem geheimnisvollen Seemann auf der anderen Seite, mit dem die junge Frau einst verlobt war und der sie seitdem gedanklich nie losgelassen hat. Als Zuschauer hat man den Eindruck, dass keine der handelnden Figuren einmal genau das ausspricht, was sie wirklich denkt – es wird ungemein oft und langwierig herumgedruckst, gestottert und umschrieben. Es bleibt nicht aus, dass man selbst zu einem großflächigen psychoanalytischen Denken ausholt, um sich ein Bild davon zu machen, was die einzelnen Charaktere bewegt:

(c) Thilo Beu

Dr. Wangel (Holger Kraft) lebt ein distanziertes Eheleben mit Ellida (Mareike Hein), die die meiste Zeit am Strand verbringt und dort im Meer schwimmt. Er selbst gibt sich naiv und spielt Ellidas Melancholie anfangs herunter, will jedoch gleichzeitig um seine Ehe kämpfen und Ellida von ihrer „krankhaften“ Sehnsucht nach dem Meer heilen. Er gerät mit der Zeit immer stärker in Rage, versucht an seiner Frau und ihrer Liebe festzuhalten, während sie ihm immer weiter entgleitet. Er redet ihr ein, sie sei schwer krank, er müsse sie heilen und setzt sie offenbar unter Medikamente. Ob dies das Verhalten eines guten Arztes ist, ist fraglich – auch wenn sicherlich die Tatsache erschwerend ist, dass die Patientin hier zugleich auch die Partnerin des Behandelnden ist. Die Töchter Bolette (Lena Geyer) und Hilde Wangel (Lara Waldow) bilden ein eigenständiges Drama. In beiden brodelt es auf unterschiedliche Weise, die jungen Frauen kämpfen um Liebe und Zuneigung, wobei sie in der Einöde Norwegens zwangläufig ihre Hoffnungen in den Vater, die Stiefmutter oder neuerscheinende Charaktere setzen. Bolette ist innerlich zerrissen: Einerseits fühlt sie sich für die jüngere Hilde verantwortlich, andererseits sehnt sie sich nach der Welt jenseits des Fjords und der ihr hier kaum entgegengebrachten Anerkennung und Aufmerksamkeit für sie als Individuum. Hier am Fjord ertrinkt sie in ihrer Verantwortung als ältere Tochter und der übernommenen Mutterrolle für Hilde. Als ihr alter Oberlehrer Arnholm (Benjamin Grüter) zu Besuch kommt, erwachen zwar weniger romantische Gefühle, aber dafür bieten sich durch ihn umso mehr verlockende Möglichkeiten der Freiheit und Unabhängigkeit. Geschürt wird Bolettes innerer Zwiespalt noch durch den blauäugigen Lyngstrand (Daniel Gawlowski), mit dem sie sich auf einer gewissen intellektuellen Ebene zwar angeregt unterhalten kann, da er ihre Interessen in Bezug auf Literatur teilt, der aber eine Weltansicht fern von jeglicher weiblicher Emanzipation vertritt. Hierdurch erinnert er Bolette daran, dass sie durchaus eine intelligente Frau mit einer Stimme ist, die sich aber durch Lesen und Träumen allein nicht aus der Unscheinbarkeit befreien kann.  Hilde ist weitaus schwieriger zu durchschauen. Wirkt sie zuerst misstrauisch, verschlossen und aufbegehrend gegenüber der aufgezwungenen Mutter Ellida, so wird mit der Zeit eine geradezu bösartige Seite an ihr erkennbar. Sie tritt neben der optimistischen Bolette gefühlskalt auf, scheint die Menschen zu obduzieren, wenn sie deren Gefühle wie bei Versuchsobjekten erkundet („Das finde ich spannend!“) und manipuliert. Im Inneren ist sie jedoch eigentlich ein junges Mädchen, dessen Mutter frühzeitig verstorben ist, der die Liebe des Vaters nicht reicht und die sich still nach der nicht vorhandenen Zärtlichkeit der neuen Stiefmutter sehnt.

(c) Thilo Beu

Die nachdenkliche und – wie Hilde betont – „kalt wie ein Fisch“ wirkende Ellida ist ein Bindeglied zwischen zwei im Grunde parallel verlaufenden Dramen. Auf der einen Seite ist sie selbst involviert in eine Ehekrise, zu der neben dem grundverschiedenen Charakter der Eheleute sicherlich auch der frühe Verlust des ersten und einzigen gemeinsamen Kindes mit Wangel geführt hat. Andererseits ist sie aber auch ein wichtiger Faktor, der ungeplant zur Persönlichkeitsentfaltung ihrer Stieftöchter führt, ja sogar subtil eine Vorbildfunktion einnimmt: So wie Ellida letztendlich von Wangel ihre Freiheit zugestanden bekommt, so brechen auch die jungen Frauen aus ihren alten Mustern aus – die Brave und Harmonieschaffende wird zur Emanzipierten, das quirlige und freche Mädchen zur geradezu beängstigend Eskalierenden. Vielleicht ist Hilde auch drauf und dran, in die Fußstapfen Ellidas als seelisch Gefangene zu treten?

Als das Stück endet, wirken die Zuschauer verwirrt. Das große Finale, das sich in rätselhaften Äußerungen und langatmigen Gesprächen angedeutet hat, was teilweise fast einen großen magischen Zusammenhang zwischen allem vermuten ließ, bleibt aus. Das Stück endet einfach. Wangel gibt Ellida auf und lässt sie gehen. Bolette ist in dem Stück die Siegerin: Sie verlässt den Fjord an der Seite des Oberlehrers. Was mit Hilde geschieht, bleibt offen. Sie wirkt rettungslos, ähnlich wie Ellida, doch während Ellida ihr Schicksal in die Hand nimmt, scheint Hilde das große Opfer des Dramas zu sein. Sie verliert nach dem ohnehin bereits prägenden Tod ihrer Mutter und der im Grunde schlechten Beziehung zu dem völlig mit sich und seiner neuen Frau beschäftigten Vater nun auch ihre kindliche Unschuld, ihre Schwester und mit Ellida auch ihre einzige potenzielle Seelenverwandte.

Tatsächlich kann man als Zuschauer zu dem Schluss kommen, dass die beiden zentralen Handlungsstränge auch vollkommen gesondert voneinander existieren könnten. Es werden zwei Geschichten rund um den Kampf um Autonomie und Selbstsicherheit in einer Welt voller gesellschaftlicher Konventionen und Angst vor der Offenbarung der eigenen Individualität erzählt. Jede für sich genommen, haben die Narrationen eine gute Aussagekraft, doch in der Verschmelzung wird diese schwammig.

Lobend hervorzuheben sind demgegenüber die schauspielerischen Leistungen der Darstellerinnen sowie die beeindruckende Wirkung des aufwändigen Bühnenbildes. Obgleich die Handlung per se nicht das Potenzial haben mag, sich durch Einzigartigkeit in die Köpfe der Zuschauer einzubrennen, so tun es doch das schaurig-schöne Setting und die ausdrucksstarken Gefühlsausbrüche der starken Frauenfiguren.

Antonia Schwingen & Tabea Laufenberg

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