(Vorschaubild: Theater Bonn)
Die Sonn- und Schattenseiten eines (Urlaub-)Landes
Teppiche liegen vor dem Eingang und im Foyer der Werkstattbühne. Die Besucher tummeln sich an den Bistrotischen und lauschen den Klängen orientalischer Musik. Es riecht nach kräftigen Minztee. Ein paar verstreute Sonnenbrillen sowie ein Liegestuhl lassen die Phantasie an ferne Sandstrände und blaues Meer reisen. Es ist der fünfte Themenabend der Reihe FERNWEHKANAL, den Anaïs Durand-Mauptit, die Regieassistentin des Schauspiels Bonn, an diesem Montag den 13. März gestaltete und den Zuschauer in das ferne Marokko verschlagen sollte, begleitet von Texte marokkanischer Autoren.
So träumerisch das Land in den Vorstellungen vieler Urlauber ist, so verträumt beginnt auch der Abend mit einem Titelsong aus dem Disney-Klassiker Aladdin, der von der Regieassistentin auf Französisch vorgetragen wird, ein schöner Einstieg in den Orient.
Doch das Märchenhafte wird grob unterbrochen, als zwei Haschisch-Konsumenten (Philipp Basener, Lena Geyer) bemerken, dass ihnen das Gras ausgegangen ist. Während sich daraufhin die klassischen Töne des Orients in moderner Popmusik verlieren, verwandelt sich auch das Foyer immer schneller in einen Basar. Ein Teppich und Palmen werden aufgestellt, Ursula Grossenbacher, verkleidet mit eierschalfarbenden Anzug und Sonnenbrille erzählt im Stil des klassischen Touristenführers von DuMont alles wissenswerte über das Land Marokko: welche Speisen dort besonders zu empfehlen sind, dass die Hauptstadt Marrakesch für seine Partys und das moderne Leben steht und so weiter. Während sie die Informationen runterrattert, kaut ein Kamel auf der Leinwand im Hintergrund in Dauerschleife rhythmisch zum Informationsfluss. Genauso fließend wechselt das Geschehen zu einer Basar-typischen Fleischerszene um eine billige Damenhandtasche.
Es könnte alles recht friedlich in diesem Land zugehen, doch es gibt auch die anderen Seiten, die Seiten, die vom Leben der Bewohner Marokkos berichten bzw. von denen, die einst dort lebten und zurückblicken.
Das Telefon im Foyer beginnt plötzlich zu klingen, eine Frau hebt ab und hält ein Mikro an den Hörer. Ein junger Mann spricht und erzählt, dass er bald heiraten würde – in Marokko. Sein Traum nach Europa zu gehen, habe nicht funktioniert und er habe wegen einer Sache noch Schulden, die er erst noch begleichen muss. Er klingt fröhlich, aber der Frust sitzt tief in seinen Worten. Sein Traum von einem besseren Leben war zerplatzt. Der unbekannte Anrufer legt auf, ohne das wir erfahren, was aus ihm wohl geworden sein mag. Doch auch Fremde, die nach Marokko kommen, finden sich in das andersartige Leben nicht gut zurecht. Sehr beeindruckend und auch etwas mythisch wird uns die Geschichte einer Person erzählt, möglicherweise sind wir es selbst, die einen blinden, alten Mann trifft. Dieser sitzt vor einem Laden und isst Apfelsinen, so langsam und gründlich, dass der Reisende dem Blinden, den er für einen Bettler hält lange beobachtet, ihm dann, als er endlich fertig mit kauen ist, eine Münze in die Hand drückt, die der Alte aber überraschenderweise ebenfalls in den Mund steckt, lange auf ihr herumkaut und sie schließlich wieder ausspuckt. Der Fremde wundert sich über den Blinde, merkt aber erst viel zu spät, dass das wirklich wundersame nicht der Blinde ist, der „immer dort sitzt und Apfelsinen isst“, sondern er, der von allen Bewohnern nun merkwürdig angeschaut wird, weil er der einzige ist, dem das Benehmen des Blinden aufgefallen war. Die eigene Fremdheit wird erst in Konfrontation mit den Anderen wirklich klar, diese kleine Erzählung machte dies eindrücklich klar.
Plötzlich wird es dunkler im Foyer, von einer kleinen Handnebelmaschine begleitet, betritt ein Derwisch (Johannes Brüser) das Foyer. Seine langen weißen Gewänder wirbeln in der Luft, als er sich immer schneller und schneller im Kreis zu drehen beginnt, bis er schließlich, aus dem Takt gebracht, stürzt. Es ist die Überleitung zum nächste Themenfeld: Politik.
In einem Land wie Marokko, das von einem König Mohammad VI regiert wird, ist es nicht einfach über Politik zu sprechen, einen arabischen Frühling, so verrät uns Durand-Mauptit, hatte es nie gegeben, die einzige Protestbewegung, die am 20. Februar 2011 ihre Stimme erhob, wurde durch eine schnell durchgeführte Verfassungsreform im Keim erstickt. Dennoch zeigen uns die Schauspieler Szenen, in denen von Korruption und Unterdrückung die Rede ist. Neben dem großen Thema Korruption, wird auch von den Frauenrechten gesprochen, aus einer interessanten Doppelperspektive: Zum einen wird, während der marokkanische Minztee durchs Publikum gereicht wird, davon gesprochen, dass das Frau-sein noch etwas anderes bedeuten muss als die Angleichung an den Mann. Dann aber wird auch die Geschichte einer jungen Marokkanerin erzählt, die in Paris lebt und zurück nach Marokko will. Sie vermisst das Land, in dem die Männer Genießer sind, sie mögen alle Frauen und schätzen die Üppigkeit und Sinnlichkeit, der man marokkanischen Frauen nachsagt und die deswegen auch von anderen Männern sehr begehrt sind – nur in Frankreich nicht.

Es bleibt ein Gedicht mit dem Apell sich nicht an die Vergangenheit zu klammern und die Zukunft im Jetzt zu finden. Heute ist die Zeit, in der man aufbrechen muss, man muss sich im Heute erfinden und sein Leben leben – mehr gibt es zum Ende nicht zu sagen und mehr braucht es eigentlich auch nicht.
Doch das alles sieht man als Reisender nicht, das alles will man als Reisender und noch weniger als Tourist sehen. Schließlich macht man in Marokko Urlaub. Was interessiert ihn, der gut zahlende Europäer, da Korruption, Machtmissbrauch und die Frauenrechte? Das Resümee: Gute Reisende sind herzlos!
Die Schauspieler Philipp Basener, Lena Geyer, Ursula Grossenbacher und Joannes Brüser als Gast, tragen die Texte mit viel Gefühl für die Atmosphäre innerhalb der Texte vor. Größenteils sogar auswendig, obwohl es eigentlich eine szenische Lesung ist. Viele werden die Autoren nicht kennen, obwohl Namen wie Mounir Fatmi (marokkanischer Künstler aus Paris), Rachid O.; Abdelhak Serhane, Sanaa El Aji, Fadwa Islah, Mohammed Khaï-Edine, Tahar Ben-Jeloun und Elias Canetti, doch längst bekannt und Eingang in unser Bücherregal finden sollten. Denn die kurzen Auszüge haben gereicht, um ein vielfältiges Bild Marokkos zu zeichnen und Lust zu bekommen, sich noch viel eingängiger mit den Texten und dem Land Marokko auseinander zu setzen.
Rebecca Telöken
Der nächste Abend des FERNWEHKANALS findet am 10. April um 21.00 Uhr statt, Reiseziel dieses Mal: Spanien – das Land des Künstlers Salvador Dalí.