Der Völkermord an den Armeniern ist die letzte Arbeit des Kölner Autors Doğan Akhanli und die erste Premiere der Saison des Schauspiels Bonn
Zum Start der neuen Theatersaison hat man sich im Schauspiel Bonn entschieden, keinen Klassiker auf das Parkett zu bringen, sondern eine Uraufführung, die es thematisch in sich hat.
Medea 38 / Stimmen lautet der Titel. Verfasser ist der im Oktober vergangenen Jahres verstorbene Doğan Akhanli; die Regie hatte Nuran David Çalış inne.
Medea 38 / Stimmen kann als Dokumentarisches Theaterstück verstanden werden, welches wahrscheinlich nicht von Akhanli vor seinem zu frühem Tod beendet werden konnte, also Fragment geblieben ist. Das Dokumentarische Theater, so heißt es im von Rowohlt herausgegebenen Theaterlexikon zu dessen Anfängen, beschäftigt sich mit Ereignissen der jüngsten Vergangenheit oder Gegenwart und „das Dokument versperrte dem bürgerlichen Publikum den Fluchtweg in eine problemlose Vergangenheits‚bewältigung‘.“ Weiter: „Die Autoren (…) ergriffen Partei für die ‚Unterdrückten und Verdammten dieser Erde‘“. Diese Beschreibung umreißt gut, worum es in dem Stück geht. Das Thema handelt jedoch, anders als in den 1920er oder 1960er Jahren, nicht von der Naziherrschaft, dem Machtmissbrauch der Kirche o. Ä., sondern es geht um den Völkermord an den Armeniern in den Jahren 1937 und 1938, worauf die Jahreszahl im Titel hinweist.
Der Autor und sein Stück
Akhanli, der selbst aus einem türkischen Dorf an der Grenze zu Georgien stammte, aber wegen seiner politischen Gesinnung 1992 aus der Türkei fliehen musste, bezeichnete sich selbst als türkischen Schriftsteller und deutschen Bürger. Durch seine Auseinandersetzung mit der deutschen Aufarbeitung der Nazidiktatur und der Massenmorde an der jüdischen Bevölkerung bekam er einen Schlüssel in die Hand, um sich der Aufarbeitung des armenischen Genozids durch den türkischen Staat widmen zu können. Dabei entwickelte er den Gedanken, dass sich eine Untat von der Geschichte bis in die Gegenwart verfolgen lässt. Diese „erste“ Untat setzt er bei dem antiken Mythos der Medea an.
Die Königstochter und Zauberin Medea stammte aus Kolchis, einer Region, die heute Teile von Georgien und der Türkei umfassen würde, also der Region aus der Akhanli kam. Medea ist vor allem bekannt für den an ihren Kindern verübten Mord, den sie aus Rache an ihren untreuen Mann Jason begeht. Diesen Aspekt klammert der Autor jedoch aus – genau wie Christa Wolf in ihrem Roman „Medea.Stimmen“, auf den sich der zweite Teil des Stücktitels bezieht. Beide folgen damit einer antiken Textfassung, die die kindermordende Frau, wie sie Euripides dann berühmt machte, nicht kannte. Christa Wolf ging es bei ihrer Medea vor allem darum, eine Frau zu zeigen, die sich aus den patriarchalen Strukturen befreit und ihren eigenen Weg geht, aber dann scheitern muss, weil sie als Frau und Fremde/Geflüchtete in Kolchis nicht akzeptiert wird.
Akhanli greift diesen Gedanken auf und verknüpft ihn mit drei Frauengestalten aus der armenisch-türkischen Geschichte. Chronologisch beginnt es mit Sabiah (Gökҫen), die 1913 geboren wurde, wahrscheinlich armenische Eltern hatte, und im Zuge des ersten armenischen Genozids in den Jahren 1915/16 von dem Staatsgründer Atatürk adoptiert wurde. Sie wurde zur Kampfpilotin ausgebildet, um Bomben auf die Stadt Dersim – Zentrum der Massenmorde – niederzuwerfen. Sie wird verkörpert durch Ursula Grossenbacher.
Es folgt die 1920 geborene Sekine (Evren); die Frau des Generals und später durch einen Putsch an die Macht gelangten siebten Staatspräsidenten Ahmet Kenan Evren. Auch sie stammt womöglich aus der bereits genannten statt Dersim. Julia Kathinka Philippi übernimmt ihre Rolle.
Schließlich die möglicherweise bekannteste Figur: Sakine (Çanҫis), Deckname „Sara“, die 1958 geboren wurde und die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) mitgründete und -führte. Sie erlebte zwar die Genozide selbst nicht mit, bekam aber in Dersim mit, welchen Repressionen die Kurd*innen ausgesetzt wurden, sodass sie sich entschloss in den Widerstand zu gehen. Nachdem sie sich mit der „Organisation“ überworfen hatte, floh sie nach Europa. 2013 wurde sie in Paris von einem Attentäter erschossen, der sie des Landesverrates beschuldigte. Gespielt wird sie von Linda Belinda Podszus. Sie alle sind starke Frauen und ähneln in diesem Sinne ihrer gemeinsamen Vorfahrin Medea.
Akhanlis Stück bewegt sich also auf gleich mehreren Ebenen: der antiken Erzählung des Medea-Mythos, die der Ermordung des armenischen Volkes zugunsten einer „Türkisierung“, des Sozialismus der DDR durch Christa Wolf sowie der Befreiung der Frau aus dem Patriachat und schließlich verweist Akhanli auch auf Erdogans Politik. All diese hochkomplexen Geschehnisse in ein einziges Stück zu packen, ist eine Mammutaufgabe.
„Geschichtsstunde“ im Theater – wie?

Wie verarbeitet Akhanli bzw. Çalış also diese Masse an Informationen, die allein durch die hier angerissenen Hinweise schon zu erahnen ist? Zum einen durch zwei dem Geschehen folgenden und aufzeichnenden Erzählern: Doğan Akhanli selbst (Christoph Gummert) und Christa Wolf (Lena Geyer) sitzen gleich zu Beginn in einer geschützten, aber in völliger Schwärze versinkenden Schreibstube in Form eines Kubus (Bühne: Anne Ehrlich). Die Bedrohung von außen symbolisiert durch die Dunkelheit ist das ganze Stück über präsent. In dem Kasten sammeln Akhanli und Wolf alles Material, das in das Stück fließen sollen. Sie berichten aus ihrem Leben, erläutern politische Kontexte, sind aber wie Gummert einmal auch zitiert: Märchenerzähler, sogenannte „Meddah“, obwohl kaum etwas so klingt als entspringe es den launigen Erzählungen der alten Kaffeehäuser, doch er ist es, der Geschichte flüssig macht, sie Stränge ineinander fließen lässt.
Lange schauen die beiden Autoren dem Geschehen nur zu, schließlich sind viele Ereignisse weit vor ihrer Geburt passiert, doch bald werden sie unfreiwillig in die Geschichte mit hineingezogen. Eine Flucht ist unmöglich. Zum anderen wird das Stück und dessen Inhalte durch eine zusätzliche Leinwand gegliedert, die dem Zuschauer einen Orientierungspunkt in den vielen Zeitsprüngen bieten soll. Wie an einem Filmset werden einzelne Szenenüberschriften eingeblendet. Den großen Rahmen bildet in klassischer Manier „Prolog“, „Hauptteil“ und „Epilog“. Dabei fällt auf, dass der „Prolog“ mit seinen vielen Szenen einen Großteil des Stückes ausmacht, während der Hauptteil und der Epilog eher kurz bis knapp ausfallen.
Bemängelt mancher Kritiker in der heutigen Zeit das Überwiegen von Effekthascherei, so ist in dieser Inszenierung der Schwerpunkt eindeutig auf das gesprochene Wort gelegt (Dramaturgie: Nadja Groß). Außer den gelegentlichen Überfällen durch mit schwarzen Masken unkenntlich gemachten Männern in Anzug-Uniform ist wenig Bewegung auf der Bühne, wobei sie genau wie die immerwährende Dunkelheit eine bedrückende immer präsente Gewalt vermitteln und Assoziationen mit Soldaten des Naziregimes hervorrufen (Kostüme: Anna Sünkel). Zum Teil spielt sich das Geschehen auch verdeckt ab. Hinter dem Erzählerhäuschen erahnt man einen weiteren Raum. Eine Zelle, wo abwechselnd die gefangen genommenen Frauen einsitzen. Die Furcht vor Folter und Tod, die auch Akhanli erfahren musste, sitzt dem Stück wortwörtlich im Nacken.
Wenn die Männer in Schwarz keinen Überfall auf die Frauen und Autoren ausüben, halten sie sich als Bewacher im Hintergrund, filmen das Geschehen wie bei einer Liveübertragung oder verwandeln sich durch Demaskierung auch in eine der männlichen Nebenrollen. Paul Michael Stiehler ist dann mal der PKK-Genosse von Sara, mal der folternde Befrager im Gefängnis. Markus J. Bachmann spielt mit feiner Konnotation den kühlen überlegenen General, während Daniel Stock die eher laute und brutale Seite des Militärs zeigt und Christian Czeremnych mimt den von Medea faszinierten Jason.
Wie kam es an?
Trotz oder vielleicht auch wegen der präzisen Recherche zum Armenier-Genozid, den vielen Gräueltaten und den individuellen Schicksalen macht es die Inszenierung dem Zuschauer nicht leicht, wirklich in das Stück einzusteigen, also historisch oder emotional (am besten ja beides). Denn durch die vielen durchaus intelligent verknüpften Erzählstränge und häufigen Szenenwechsel als auch die Masse an Informationen, mit denen der Zuschauer konfrontiert wird, stellt sich zur Pause der insgesamt 2 Stunden und 40 Minuten dauernden Inszenierung doch eine gewisse Erschöpfung ein. Man bekommt das Gefühl gar nicht alles verarbeiten zu können. Dadurch dass die Charaktere hauptsächlich monologisch agieren, ist es als ob eine Klappe am Kopf des Zuschauers aufgesperrt und immer weiter mit Blättern voller Informationen gefüllt wird. Hier kann zum Glück das Programmheft Abhilfe schaffen. Jenes ist fast wie ein komprimiertes Geschichtsbuch, das viele der im Stück vorkommenden Ereignisse erläutert und beleuchtet. Zudem enthält es einen Text von Akhanli, der seine Arbeit noch einmal selbst hervorragend darstellt. Eine in dieser Hinsicht empfehlenswerte Lektüre, die auch nach dem Stück sicher einige „Aha-Momente“ mit sich bringt. Zugleich spürt man jedoch, dass man trotz der Müdigkeit gerne mehr wissen will – man will auf alle Fälle bis zum Schluss bleiben. Man will verstehen, was damals alles passiert ist.
Doch die bereits erwähnte Textlastigkeit lässt ein Spiel zwischen den Figuren kaum entstehen, außer es kommt zu den gewalttätigen Überfällen und Verhören. Selbst Wolf und Akhanli – bzw. Geyer und Gummert – scheinen nicht wirklich miteinander über ihre Texte zu kommunizieren, sondern eher ihre Texte für sich stehend im Wechsel zu sprechen. Sie bringen jedoch eine gewisse Ruhe in das Geschehen, indem sie erst gegen Ende, vom Geschehen überwältigt, die Contenance verlieren und im Angesicht der Gewalt zu Recht laut werden.
Bei den drei Hauptdarstellerinnen kommt zu einem gewollt monologischen Vortrag auch eine gewisse Gleichförmigkeit im Spiel dazu – Sara ist fast durchgängig aggressiv, egal ob sie gefoltert oder ihr Verlobter wegen Verrats exekutiert wird. Sekine ist ruhiger, aber ihre Wutausbrüche desto heftiger. Etwas mehr Abwechslung bringt Sabiah hinein. Sie ist verunsichert, da man ihr die Identität ohne ihr Wissen geklaut und dann auch noch für ungerechtfertigte Morde instrumentalisiert hat. Sie bildet den wörtlichen Gegenpol, denn sie steht ungewollt auf der falschen Seite und weiß hinterher auch nicht mehr, wie sie sich zu ihrem Adoptivvater verhalten soll.
Dennoch blieben auch ein paar Dinge unausgesprochen. Beispielsweise der gleich zu Beginn und sich durch die ganze Inszenierung ziehende auffällige Hashtag #SUSAMAM (s. Bild). Dieser Hashtag führt zu einer Aktion einer türkischen Rap-Vereinigung, die 2019 ein Video gegen die türkische Regierung gedreht hat und Furore in ganz Europa ausgelöst haben. SUSAMAM heißt übersetzt „Ich kann nicht schweigen“ und auch wenn sich der Protest nicht gegen die Armenier-Massaker richtet, so zeigt es doch, dass auch die jüngere türkische Generation nicht mehr stillschweigend die gegenwärtige Politik in ihrem Land hinnehmen möchte.
Was bleibt also von dieser Premiere? Jedenfalls die unangenehme Gewissheit, dass das Mittel des Genozids eines der grausamsten Kennzeichen des 20. Jahrhunderts bildet. Angesicht der vielen, gerade in NRW und besonders im Köln/Bonner Raum lebenden TürkInnen und KurdInnen ruft das Stück in Erinnerung, wie wichtig die Erinnerungsarbeit und Völkerverständigung ist, aber auch wie schwierig und fragil Völkerverständigung sein kann. Alkhanlis im Stück zitierte Worte sind mit die bewegensten: „Gewalt geht jeden etwas an. Gewalt ist willkürlich. Das galt für die Juden in Europa genauso wie für den Völkermord an den Armeniern und Kurden. (…) Damit sich die Gewalt nicht wiederhole, müssen die Völkermorde des 20. Jahrhunderts immer wieder aufgearbeitet werden. Deshalb brauchen wir einen transnationalen Erinnerungsraum. Der Schmerz macht uns zu Geschwistern (…). Wenn die Vernichtungspropheten und ihre Komplizen ankündigen, dass sie wieder da sind, müssen wir aufstehen, wir, die wir die Mehrheit sind, und sagen: Wir sind auch da!“
Der Inszenierung hätte möglicherweise etwas mehr interaktives Spiel nicht geschadet oder aber stille Momente zum Durchatmen, Gedanken sortieren. Dennoch sollte man Akhanlis Werk, das Fragment geblieben ist (!), in der Weise würdigen, dass es den „Unterdrückten dieser Erde“ eine Stimme verliehen hat. Die Untaten auf die auch heute noch Staaten und Länder gegründet sind, dürfen nicht in Vergessenheit geraten.
Rebecca Telöken
Info zu Doğan Akhali: 1957 in der Türkei geboren. Schrieb mehrere Romane in Deutschland auf Türkisch, die wieder ins Deutsche übertragen wurden. Für seine Romane fand er in der Türkei viel Anerkennung. Zu nennen sind seine Trilogie „Kayip Denizler“ („Die verschwundenen Meere“), deren letzter Band „Kiyamet Günü Yargiçlari“ („Die Richter des Jüngsten Gerichts“) den Völkermord in Armenien im Jahr 1915 beschreibt und sein zuletzt erschienenes Buch ist „Verhaftung in Granada oder: Treibt die Türkei in die Diktatur?“ (2018). Er gab in Köln Führungen im Gestapogefägnis (EL-DE-Haus), besonders für Jugendliche.
2012 schrieb Akhanli bereits ein Theaterstück auf Deutsch „Annas. 2018 erhielt er als Erster den neu gegrüdndeten Europäischen Toleranzpreis für Demokratie und Menschenrechte. 2019 erhielt er die Goethe-Medaille.
Am 31. Oktober 2021 verstarb Ahkanli an einer Krebserkrankung.
Weitere Informationen zu den Genoziden an den Armeniern findet ihr z. B. auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung:
https://www.bpb.de/themen/zeit-kulturgeschichte/genozid-an-den-armeniern/218107/armenien-und-der-osmanische-genozid/ (Abgerufen am 13.09.2022).
Etwas kürzer über den ersten Genozid an den Armenier, dafür mit weiteren Literaturverweisen, finden sich Infos beim Bundesarchiv:
https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Virtuelle-Ausstellungen/Der-Volkermord-An-Den-Armeniern/der-volkermord-an-den-armeniern.html (Abgerufen am 13.09.2022).
