Wiedersehen an einem Netflix-Samstag

Vorschaubild (c) Thilo Beu

„Menschen bewegen sich wie haltlose Gestirne durch den sternenlosen Raum. Der Traum ist aus, aber wir werden leben (nach Ton Steine Scherben) … müssen leben.“

(S. Hawemann in einem Interview mit dem Kölner Kulturmagazin CHOICES).

Diese, je nach dem, deprimierende Erkenntnis eröffnet und durchzieht das Stück
VOR SONNENAUFGANG von Ewald Palmetshofer (nach der gleichnamigen Vorlage von Gerhart Hauptmann) unter der Regie von Sascha Hawemann, welches am 2. Oktober seine Premiere im Schauspielhaus feierte.

Das Bühnenbild (Wolf Gutjahr), ein Haus mit zwei Räumen, dreht sich um die eigene Achse, ein Arzt joggt angestrengt und sichtlich gehetzt nebenher im Kreis, daneben sitzt ein Mann an seiner imaginären Schreibmaschine. Zu der schwermütigen und tragenden Musik mischt sich das endlose „Klick, klick, klick“ seines raschen Tippens.
Das Haus gehört der mittelständischen Unternehmerfamilie Krause, deren innere Brüche in den folgenden 2 ½ Stunden erzählt wird. Der schreibende Mann ist Alfred Loth (Holger Kraft), der joggende Mann Dr. Peter Schimmelpfennig (Timo Kählert).

(c) Thilo Beu

Die Geschichte spielt sich in einer langen Nacht von Samstag auf Sonntag ab. Stiefmutter Annemarie Krause (Ursula Grossenbacher), ihr Ehemann Egon Krause (Christoph Gummert) und dessen Töchter aus erster Ehe gehen auf einen Shoppingtrip. Sie kaufen für das Kind ein, das aus der Ehe der jüngeren Tochter, Martha (Lena Geyer), und Ehemann Thomas Hoffmann (Daniel Stock) hervorgehen wird. Helene (Sophie Basse), Marthas ältere Schwester, ist gescheiterte Performance-Künstlerin und vor Kurzem aus der Stadt zurück in die Enge der Provinz zurückgekehrt. Kurz und bündig erzählt Hawemann an dieser Stelle die Dynamiken der Familie: Keiner hilft dem anderen, und jeder wird mit der Last seiner Schwächen und Probleme allein gelassen. Hier verdeutlicht anhand eines überdimensionalen Päckchens, das jeder aus der Familie einmal mühsam schleppt. Währenddessen schaut sich Thomas Hoffmann, potentieller Nachfolger der erfolgreichen Autofirma Egons, Folgen der vor ein paar Jahren erfolgreichen Serie Breaking Bad auf Netflix an. Er fühlt sich sichtlich wohl, bis Alfred Loth anklopft. Er ist ein alter Freund aus Jugendtagen. Das Wiedersehen verläuft sichtlich merkwürdig. Eine Szene, die humorvoll und sehr genau zeigt, dass die Figuren verlernt haben, richtig zu kommunizieren. Im Stile des Naturalismus bleiben Sätze grammatikalisch unvollendet und es finden sich gehäuft Aposiopesen (das Weglassen des Wichtigen) in den Worten der Protagonisten. Man hört die Spannung zwischen den beiden, der eine in goldenem, kurzem Morgenmantel, der andere in legerer Kleidung. Am Ende des Stücks werden sie entblößt voreinander stehen, bar aller Scheinheiligkeit, die sie jetzt noch zu Beginn ihres moralischen Kampfes über alte Jugendideale, der das Stück inhaltlich trägt, hervorholen. Jedoch unbeholfen. Thomas ist sichtlich unangenehm berührt vom unangekündigten Auftauchen des linken Journalisten, den er seit über 10 Jahren nicht mehr gesehen hat. Lieber hätte er diesen „Netflix-Samstag“, wie er sich ausdrückt, allein auf der Couch verbracht. Nun aber wird er überraschend mit längst verdrängten Erinnerungen belästigt, die sein jetziges Selbstbild gefährden könnten. Denn er ist vor allem aus Karrieregründen vom linken Idealisten zum Rechtspopulist geworden.

(c) Thilo Beu

In weiteren Dialogen, die im Gegensatz zu den vielen Monologen stets unbeholfen und holprig von statten gehen, wird immer wieder eines klar: die Figuren sind unfähig, ihren Mitmenschen zuzuhören, versinken stattdessen in ihrer eigenen zerbrochenen Welt und versuchen gegen den fest werdenden Zement anzuschwimmen, der sie in vorgegebene gesellschaftliche Strukturen und geschlechterspezifische Rollenbilder zwingt. Gut zu sehen an der depressiven und hochschwangeren Martha. Sie hofft durch die Geburt auf neue Sinngebung, jedoch fällt sie immer wieder in das Loch ihrer Depression. In den schlimmsten Phasen setzt sich Lena Geyer als Martha einen pinken, traurig schauenden und zerschlissenen Teddybär-Kopf auf, der ihre Figur endgültig von ihren Mitmenschen entfernt und dem Publikum Marthas Entfremdung, Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit deutlich macht. Ihr depressiver Charakter, vererbt durch ihre verstorbene leibliche Mutter, ist in Palmetshofers Stück das Äquivalent zur Alkoholsucht in Hauptmanns Werk. Aber auch in der neuen Adaption spielt Alkoholismus eine große und bestimmende Rolle. So bestimmt die Alkoholsucht die Ehe von Annemarie und Egon, in der sexuelle Frustration, fehlendes Verständnis und Gewalt – emotionaler sowie physischer Natur – vorherrschend sind. In Palmetshofers Werk ist die Depression, die auch bei Helene sichtbar wird, der Grund, warum Alfred Loth der Liebesbeziehung zwischen ihm und Helene schlussendlich entsagt.

Das Stück ist voller beeindruckender Szenen, die tief berühren und zu fesseln vermögen. Untermalt werden diese Momente sehr schön durch die wohl gewählte Musik. Aber auch die Lichtregie und die geschickt platzierten Projektionen tragen zu einem packenden Theater-Abend bei. Wer eine interessante und psychologische Analyse einer Familie mit vielen Problemen sehen möchte, die in vielen Punkten unsere eigenen sind und ihren Ursprung in einer von Funktionalität, Leistung und Karriere geprägten Gesellschaft haben, sollte sich dieses Stück ansehen. Auch vor politisch hochaktuellen Themen wird nicht zurückgeschreckt. Die Frage danach, wie ein Mensch wie Thomas Hoffmann zu einem Rechtspopulist werden konnte, durchzieht das Stück und gibt aufschlussreiche Antworten. Die Schauspieler spielen ihre ambivalenten Rollen mit nachhaltiger Wirkung auf den Zuschauer und machen die Gebrochenheit ihrer Figuren mit viel Liebe deutlich spürbar.

Henriette Wöllnitz

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