Charlotte Sprenger debütierte mit Lessings MINNA VON BARNHELM am 12. September im Schauspielhaus Bonn
Vorschaubild (c) Thilo Beu
„Nein, mein schönes Fräulein, so umständlich träumt man nicht“ – ein wahres Wort, das der Wirt im berlinerischen Gasthaus dort spricht, denn so komplex, wie das Schauspiel der Minna von Barnhelm ist ein Theaterstück selten.
Der Inhalt
Gotthold Ephraim Lessing, dessen Nathan der Weise wahrscheinlich jedem Schüler ein Begriff ist, hat mit Minna von Barnhelm ein hoch verstricktes Lustspiel in 5 Akten geschrieben. Die Wirren des (Siebenjährigen) Krieges haben dem Major von Tellheim Kriegsverletzungen beigebracht, ihn daneben in die Armut gestürzt und seine Ehre gekränkt. Kein Profiteur des Krieges könnte man meinen. Aus diesem Grund schreibt er seiner Geliebten Minna, die im thüringischen Sachsen sehnsüchtig auf Nachrichten von ihm wartet, nicht. Stattdessen streunert er von Gasthaus zu Gasthaus in Berlin, ohne dass er die angebotenen Hilfen seines ehemaligen Unterstellten Just oder seines ehemaligen Wachtmeisters Paul Werner, die beide in seiner Schuld stehen, annehmen möchte.

Allerdings rechnet er nicht mit Minnas Hartnäckigkeit. Minna reist ihm zusammen mit ihrer Kammerjungfer Franciska hinterher und landet eher zufällig in genau dem Gastzimmer, aus dem der Wirt Tellheim zuvor ausquartierte, weil dieser seine Schulden bei ihm nicht bezahlt hat. Weil Tellheim kein Geld hat, obwohl ihm Werner ununterbrochen Geld aus dem Verkauf seines Hofes als Dank für die gleich zweimalige Rettung seines Lebens anbietet, gibt er dem Wirt seinen Verlobungsring zum Versetzen. Diesen Ring, der in der weiteren Handlung noch für einiges Unglück sorgt (man denke an Nathan), zeigt der Wirt der Minna, weil er an ihrer Hand den gleichen entdeckt hat. Auf diese Weise erfährt sie, dass ihr Major in der Nähe sein muss und bricht schon in Jubelfreude aus. Weil Lessing in diesem Schauspiel wirklich alle Begegnungen über mindestens eine Mittlerperson zustande kommen lässt, kürzen wir etwas ab. Minna und der Major treffen sich also wieder, doch er weist sie, nachdem er erst kurz von seinen Gefühlen überwältigt wurde, kalt ab und erklärt ihr, er könne sie nicht mehr heiraten, weil er arm, verkrüppelt und seiner Ehre beraubt sei. Damit sei er selbst schon unglücklich und wolle sie nicht auch noch in sein Unglück stürzen.
Was ist die Ehre?
Machen wir hier einen kurzen Einschnitt. Der Begriff „Ehre“ wird in der heutigen Zeit eher selten benutzt und ist, in Hinblick auf die Liebe, meistens kein Hindernisgrund, um eine Ehe einzugehen. Zu Lessings Zeit aber war die Ehrverletzung durchaus nicht ohne Folgen für die Frau. Minna ist reich und hat einen guten Ruf. Dieser wäre bei einer Heirat mit dem in Verruf geratenen Major automatisch mit in den Schmutz gezogen worden, ebenso wie Minnas Vermögen möglicherweise in Gefahr geraten wäre. Bis jetzt hat der Zuschauer aber nicht erfahren, warum der Major überhaupt in Ungnade gefallen ist, Minna auch nicht, allerdings stört sie weder sein heruntergekommenes und durch die Verletzungen entstelltes Aussehen, noch die Anschuldigung der Herrschenden. Minna ist eine höchst moderne Frau, die sich über Konventionen hinwegsetzt und ihnen mutig entgegentritt. Der einzige, der sie in ihrem Vorhaben den Major zu heiraten bremsen könnte, ist der Major selbst und dieser ist eben in seinen Wertvorstellungen so verbissen gefangen, dass er keinen mutigen Schritt wagt.
Und was geschieht noch?

Nach einem erneuten Treffen mit dem Major, das nur deswegen zustande kommen konnte, weil Minna behauptete, einen Brief, den dieser ihr geschrieben hätte, ungelesen zurückgeschickt zu haben, versichert sie sich seiner ungebrochenen Liebe zu ihr. Wir sind am Ende des dritten Aktes, als Minna schließlich die Intrige entspinnt, um ihren Tellheim zum Umdenken zu bewegen. Ein gewagtes Spiel, das im Gegensatz zur Lessings Vorlage in der Inszenierung von Charlotte Sprenger kein eindeutig glückliches Ende findet. Nein, bei Sprenger wird der Eindruck erweckt, dass diese große Frau tatsächlich doch in Ihre Schranken gewiesen werden musste. Ihr fast schon egoistischer Wunsch sich mit Tellheim zu verheiraten treibt sie so weit dass sie das Spiel nicht zum rechten Zeitpunkt beendet, sondern wie eine Spielsüchtige immer weiter macht, bis es zu spät ist. Dieser Spielsucht-Zug wird in ihrer Begegnung mit Riccaut de la Marliniere angedeutet, dem sie nämlich Geld von sich gibt, um es bei einer Spielbank zu setzen. Ist das nun Leichtsinn, wie Franciska es ihr vorwirft oder interessiert es Minna einfach nicht, ob sie Geld hat oder nicht, so wie sie es nicht interessiert, ob Tellheim arm ist oder nicht? Es drängt sich sogar bei der Inszenierung von Charlotte Sprenger der Verdacht auf, dass die eigentliche Gewinnerin, die stets versucht hat ihre Herrin wieder auf die rechten Bahnen zu bringen, Franciska ist, die zum Ende ihren Werner heiratet.
Charlottes/Minnas Traumwelt
Sprenger bettet das Geschehen in einer traumartigen-Bonbonwelt ein. Im Programmheft wird das Wort „Realitätsflucht“ als ein Charakteristikum der Bühnenfiguren gebraucht. Und tatsächlich wirkt es streckenweise, als würde sich Minna immer wieder im Kampf mit der Realität befinden. Minna, die von Annika Schilling mit überschwänglicher Energie, dazu gradlinig und gerissen dargestellt wird, taucht – kurz nachdem sie erfährt, dass Tellheim in der Nähe ist und man ihn zu ihr bringen wird – in einem beeindruckenden, zugleich aber fast lächerlich ausladenden weißen Tüllreifenkostüm auf, bereit ihn von der Stelle weg zu heiraten. Tellheim ist es, der ihre Träume immer wieder auf eine harte Probe stellt. Alois Reinhard gibt diesen in seinem Leid und auch in seiner Wut sehr körperbetont. Tellheim leidet mit jeder Faser seines Körpers, er verkrampft aus (seelischem?) Schmerz, klammert sich wie ein Kind an Just und Werner, tobt wenn man seine Vorstellungen von Ehre nicht ernst nimmt und gleicht Minna in ihrer exaltierten Art in seinen euphorischen Phasen, was auch dadurch betont wird, als er plötzlich ihr weißes Hochzeitskleid trägt. Dadurch fällt es manchmal schwer zu verstehen, was Minna genau an diesem Mann findet. Erst als die Geschichte hinter der Anschuldigung der Regierung erzählt wird, wird ihre Liebe für den Zuschauer etwas einsichtiger. Tellheim war während des Krieges die Aufgabe zugefallen, Geld für die Regierung einzutreiben. Bei den Mittellosen zahlte er allerdings dieses Geld aus eigener Kasse und ließ es sich als Wechsel anschreiben. Dieser Wechsel wurde ihm von seinen befehlshabenden Vorgesetzten dann als Bestechungsgeld, das er vom Feind erhalten hätte ausgelegt, woraufhin er unehrenhaft entlassen wurde. Minna hatte seinerzeit von der großzügigen Tat des Tellheim gehört und bereits dort, noch bevor sie ihn gesehen hätte, wie sie sagt, in ihn verliebt. So müsste es eigentlich Tellheims Stärke sein, dass er ein Gerechtigkeit liebender und sein Wort haltender Mensch ist, den Minna liebt, aber in der Inszenierung leider etwas überzeichnet wirkt.

Neben den beiden ringenden Seelen, beeindruckt Annina Euling mit ihrer Darstellung der Franciska. Diese ist einsam. Sie hatte schon viele Männerbekanntschaften vor dem Krieg gemacht, wovon keiner zu ihr zurückgekommen ist. Trotzdem ist Franciska immer weiter auf der Suche nach der Liebe. Erst Partygirl und besonders frei und modern wirkend, ist es aber doch Franciska, die Minna für ihr Spiel am meisten tadelt, Mitleid mit dem Major zeigt und bei Charlotte Sprenger letztendlich das weiße Kleid anbehält, als sie sich mit Werner verlobt, während Minna ein schwarzes trägt. Überhaupt kann man an den Kostümen, die Aleksandra Pavlović unter der Mitarbeit von Sophia May entworfen hat, ganz verschiedene Nuancen der Figuren ablesen. Werner und Just tragen Oberteile in knalligen Farben und einen weißen Kragen, wodurch sie an sehr einfache Musketier-Kostüme erinnern und möglicherweise an den geleisteten Kriegsdienst der beiden erinnern soll. Auch Tellheim würde ein ähnliches Kostüm tragen, doch immer wenn Just ihm versucht seine Kleidung anzuziehen, windet sich dieser aus ihr heraus. Das ist lustig, aber auch etwas traurig. Just, der von Christian Czeremnych verkörpert wird, ist der treuste Kamerad Tellheims, der den guten Ruf seines Majors stets gegen Anfeindungen jeder Art verteidigt. Trotzdem entlässt Tellheim ihn zwischenzeitlich, was diesem fast das Herz bricht. Czeremnych schafft es den etwas einfältigen aber treuen Just dem Publikum sehr nahe zu bringen und beinahe zu rühren, als er erzählt, wie er ausversehen einen Pudel rettet, der nun stets bei ihm bleibt, obwohl er ihn nicht gut behandelt und so sein Verhältnis zu Tellheim zeichnet: der treue Hund.

Sören Wunderlich in der Rolle des Paul Werner ist wohl der am meisten geschundenste. Der ehemalige Wachtmeister will mit Geld helfen, träumt allerdings auch vom Krieg in Persien. Er hängt am Krieg und bittet Tellheim mit ihm nach Persien zu kommen, wo Krieg herrscht, um wieder das zu tun, was sie die letzten Jahre getan haben.
Schließlich darf aber auch der Wirt, gespielt von Bernd Braun, nicht unerwähnt bleiben. Dieser sticht von Beginn an durch ein langes, golden glitzerndes Nachthemd heraus. Er ist Wirt, Vermieter, Polizeispitzel, Informant, Bote und irgendwie immer dabei und mit seinen lakonischen Bemerkungen beliebt beim Publikum, trotz seines eher zwiespältigen Charakters. Klaus Zmorek spielte Riccaut de la Marliniere, dessen Rolle als par excellence Beispiel für eine „verdeckte Handlung“ in Lessings Stück angeführt werden kann. Der redselige Franzose würde nämlich dem Zuschauer wichtige Informationen mitteilen, wenn er diese nicht völlig unverständlich Nuscheln oder auf Französisch überbrächte. Lessing hat das wohl absichtlich so vorgesehen, nur dem französischsprachigen Publikum war somit in dieser Szene bereits klar, was Minna für interessante Neuigkeiten erfahren hat, die sie in ihr Spiel einflechten kann.
Und unser Eindruck?
Charlotte Sprengers Inszenierung hat drei große Schwerpunkte: der wohl nur wenig gekürzte Text, die Kontraste zwischen der bunten Traumwelt und der grauen Realität, die durch eine graue Wand am Anfang und Ende den Traum in seine Schranken weist und der Witz, der einem Lustspiel innewohnen soll. Letzterer ist reichlich vorhanden, manchmal vielleicht etwas zu viel, denn es ist alles schon bunt und trotzdem schwelt im Hintergrund noch diese Gesellschaftskritik, die aber in Lessings Sprache nicht immer leicht zu erfassen ist. Es gibt ruhige Momente, in denen vor allem die Gefühlswelten der Figuren in traumhaften Szenen dargestellt werden, z. B. als Franciska verliebt mit Werner fangen spielt oder lächelnde Flauschebälle auf Rollschuhen um Minna und Franciska fahren. Leider wirken diese Szenen manchmal etwas zu lang, sodass man aus dem Handlungsfluss geworfen wird. Überhaupt kann sich in dem 2,5 stündigen Abend doch der ein oder andere lange Atem als nützlich erweisen. Es ist allerdings Lessing anzukreiden, dass sich die Handlung wirklich nur mühsam entwickelt, eben weil er so viele Umwege zwischen den Figuren eingebaut hat, die bei einer Textanalyse sicher sehr spannend, zum Sehen allerdings etwas anstrengend sein können. Dennoch ist es positiv zu bewerten, dass möglichst viel Text beibehalten wurde (Dramaturgie: Nadja Groß) und keines der vielen Themen allzu viel in den Vordergrund gerückt oder vollständig weggelassen wurde. Das kann kritisiert werden, oder man freut sich, dass so die Vielfältigkeit des Stückes gezeigt wurde, wenn auch nicht auf die heutige Zeit hin interpretiert.
Rebecca Telöken