Konzeptionsprobe zur Produktion Nathan der Weise am Theater Bonn unter der Leitung von Volker Lösch (21.12.2015)
Aufgeregt nähere ich mich der Probebühne 3 auf dem Gelände der Halle Beuel, wo heute die Konzeptionsprobe zu Nathan der Weise stattfinden soll. Der Raum ist relativ groß, zu meiner linken steht eine improvisierte Bühne, anhand der aufgestellten Tische, Stühle und der Tafel ist es eindeutig der Nachbau eines Klassenzimmers. Hier bin ich richtig! (Vorschaubild (c) Rebecca Telöken)
Unmittelbar vor mir wurde ein überdimensionaler Stuhlkreis aufgebaut. Ich begrüße das kleine Grüppchen von Dramaturgen, Assistenten und sonstigen Mitwirkenden, die sich bereits eingefunden haben. Alle sind nett, gut gelaunt und bereiten die letzten Kleinigkeiten für die Probe vor. Ich entdecke neben dem Kaffeetisch eine Bücherauslage, auf der verschiedene Werke unterschiedlicher Autoren bereit liegen. Ins Auge sticht mir sofort ein wohlbekannter, wenn auch ungeliebter, Titel: Deutschland schafft sich ab von Thilo Sarrazin. In meinem Kopf rattert es unweigerlich und ich male mir aus, worum es gegebenenfalls in dieser Inszenierung gehen könnte.
Langsam trudeln die Schauspieler (Sophie Basse, Bernd Braun, Daniel Breitfelder, Glenn Goltz, Julia Keiling, Manuel Zschunke und Jan Jaroszek), die Souffleuse, Bühnen- und Kostümbildner und noch einige andere ein. Dann betritt ein großer, schlanker Mann den Saal. Er stellt sich mir freundlich und mit einem angenehmen Händedruck als „Volker“ vor. ‚Der Regisseur‘!, denke ich und muss gleich etwas schmunzeln, weil er meinem Klischee eines Theaterregisseurs irgendwie etwas entgegenkommt – wenigstens kleidungstechnisch, ganz in schwarz. Er ist sehr höflich, grüßt jeden einzelnen und nimmt ebenfalls auf einem der schwarzen Plastikstühle Platz – der bequemer und imposanter wirkende Lederschreibtischstuhl bleibt unbenutzt in der Ecke stehen.
Nach einer allgemeinen Begrüßung und kleinen Vorstellungsrunde beginnt Volker Lösch, der zuletzt mit Graf Öderland über Pegida in Dresden Schlagzeilen gemacht hat, mit einer

Einführung zum Stück und macht deutlich: Nathan der Weise ist nicht einfach zu inszenieren, denn es ist – wie er es nennt – ein „Argumentationsdrama“. Es musste zur Zeit seiner Entstehung für etwas herhalten, was für Lessings Zeitgenossen hoch brisant war, nämlich die Frage nach dem alleinigen Wahrheitsanspruch des Christentums gegenüber allen anderen Religionen. Lösch gibt dazu geschichtliche Rückblicke aus Lessings Leben, der beispielsweise mit dem Hamburger Hauptpastor Goetze eine unschöne Auseinandersetzung hatte, den sogenannten Fragmentenstreit, da Lessing den damals ungeheuren Standpunkt vertrat, dass man menschlich (im Sinne von „gut“) sein konnte, ohne dafür gezwungenermaßen christlich sein zu müssen. Für dieses Problem der Toleranz anderen Religionen gegenüber nutzte Lessing die Ringparabel, die er von Boccaccio kannte – und in gewisser Weise hatte er damit Erfolg, denn jeder kennt heutzutage seinen Nathan. Doch genau darin liege zugleich das Problem, sagt Lösch. „Tolerant“ sind heute fast alle, jeder würde der Aufforderung der Ringparabel, ohne groß nachzudenken, zustimmen. Man würde also als tolerantes Theater einem toleranten Publikum ein tolerantes Stück vorspielen und damit offene Türen einrennen – aber letzten Endes wäre damit niemanden geholfen.
Wie kann man also solch ein Stück heutzutage noch auf die Bühne bringen und gleichzeitig eine Botschaft vermitteln, bei der die Menschen zumindest zum Nachdenken angeregt werden? Wie sieht das Regiekonzept von Volker Lösch aus? Meine Neugier steigt und langsam fallen erste Schlagbegriffe, wie: Kampf der Kulturen, Islam versus Islamismus, abendländische und muslimische Kultur, besorgte Bürger. Man merkt schnell: Lösch scheint den Begriff „Religion“ zu erweitern und sich dem Begriff „Kultur“ zuzuwenden, außerdem gibt es eine Verlagerung vom einstigen Antisemitismus hin zur Islamfeindlichkeit – die in der westlichen Welt derzeit den größeren Raum einnimmt.
Immer wieder werden, in der nun folgenden Diskussion, die Themen des Antiislamismus durch kleine Buchvorstellungen vertieft und von verschiedenen Positionen aus beleuchtet. Den Anfang machen verschiedene Werke Navid Kermanis – Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2015; Lösch geht aber weiter und stellt auch das Buch Daniel Krauses Als Linker gegen Islamismus vor, bis hin zu dem bereits erwähnten Thilo Sarrazin. Eines wird dabei deutlich: die meisten Autoren verwischen die Grenzen zwischen Islamismus und Islam, werfen beides in einen Topf und erklären ihn als potenzielle Gefahr für die westliche Gesellschaft. Hier ist also der erste wichtige Punkt: Wir müssen uns darüber klar werden, was wir verurteilen und genau differenzieren. Statistiken belegen, dies nur nebenbei erwähnt, dass der Großteil der Muslime Befürworter der Demokratie sind.
Die Diskussion bewegt sich weiter vom Makro- in den Mikrokosmus. Elisa Hempel, Dramaturgieassistentin am Theater Bonn, stellt uns Zahlen und Fakten aus Bonn zu Muslimen vor. Sie spricht Themen wie die Problematik Bonns mit seiner Salafistenszene an, deren sogenannte „Talentsucher“ gerade im sozial schwachen Stadtteil Neu-Tannenbusch auf fruchtbaren Boden treffen. Sie berichtet von Treffen und Gesprächen mit Streetworkern und Jugendlichen im Jugendhaus „Brücke“. Gerade die Jugendlichen der „Brücke“ hätten sehr offen über (ihre) Religion gesprochen. Auch die König Fahad Akademie in Lannesdorf wird erwähnt und Elisa Hempels persönliches „Highlight“: Der Besuch einer Moschee.
Das Puzzle des Regiekonzepts bastelt sich weiter zusammen durch einen vertieften geschichtlichen Abriss zur Entstehung und Aufführungsgeschichte des Nathan-Dramas durch Dramaturg Stefan Bläske. Wieder wird betont: Die Ringparabel war zu ihrer Entstehungszeit revolutionär, heute ist sie allgemein anerkannt. Aber genau hier liegt der Haken: Sie ist, so Lösch, zu einer leeren Botschaft geworden und wird nicht selten mit „Ja, aber-Sätzen“ deformiert. Oder es kommt zu einer Umkehrung: wenn alle Religionen gleich sind, dann passt euch uns gefälligst an! Die Parabel ist also mit der Realität kaum zu vereinbaren und eher zu einer Utopie geworden, die einfach nicht zu funktionieren wollen scheint. So langsam habe ich es verstanden – hoffentlich…
Nach so vielen niederschmetternden Erkenntnissen, worunter auch die ablehnende Haltung staatlicher Schauspielschulen gegenüber Bewerbern mit Migrationshintergrund zu zählen ist, gibt es erst einmal eine Pause. Ich fühle mich mit Informationen etwas überrannt, selbst wenn mir das allermeiste davon bekannt war. Ich bilde mir sogar ein, so etwas wie ein schlechtes Gewissen zu haben, obwohl ich nicht zuordnen kann, wem oder was gegenüber.

Nach der zehnminütigen Verschnaufpause gibt es einen weiteren historischen Abriss, gehalten von der Dramaturgin Nadja Groß – dieses Mal zur Entwicklung des Islams. Dann endlich wird konkret auf die geplante Inszenierung eingegangen und es bestätigt sich, was zuvor rauszuhören war: Volker Löschs Nathan soll ein Grenzgänger werden, er soll einem realen Menschen nachempfunden werden, er soll die Konflikte aufdecken bis es weh tut. Außerdem soll es einen konkreten Bezug zu Bad Godesberg geben. Mehr verrate ich an dieser Stelle nicht, damit man gespannt bis zur Premiere sein darf. Soweit aber vorweg: die Rolle des Nathan wird von Bernd Braun übernommen. Weiter erfahre ich, dass Lessings Vorlage eine starke Kürzung erhalten wird, denn es käme vor allem auf die „Seele“ des Stücks und die ihm inhärenten Konflikte an. Die dann angereichert werden sollen mit Texten von Muslimen aus Bonn. Ideen zum Bühnenbild und besonderen „Spezialeffekten“ werden erläutert und an einem kleinen Miniaturmodell erläutert.
Vielleicht ist es die vorangeschrittene Uhrzeit, die das ganze antreibt, aber alles geht jetzt etwas schneller voran. Die ersten Entwürfe für die Kostüme werden in drei Varianten vorgelegt. Jede Variante versucht einen eigenen Schwerpunkt zu setzen, wir haben es hier also mit einem „Kostümkonzept“ zu tun, auf das man bei der Premiere vielleicht achten sollte. Noch kürzer geht die anschließende Fassungsbesprechung von statten, es wird auf Kürzungen und umgestellte Szenen hingewiesen – alles unter Vorbehalt, Änderungen können immer vorgenommen werden, außerdem böte die gekürzte Version noch genug Platz, um die eigenen Diskurse einzubauen.
Was deutlich wird: es ist noch alles in der Entstehung. Die Premiere ist Anfang Februar und obwohl ich schon oft gehört habe, dass die Endfassung einer Inszenierung teilweise erst knapp vorher feststeht, bin ich erstaunt, wie gelassen man das ganze nimmt. Sind ja noch ganze acht Wochen Zeit…
Ich beende diesen kleinen Einblick in die Konzeptionsprobe mit Volker Löschs Hausaufgabe an die Schauspieler: Sie sollen darüber nachdenken, ob und an was sie glauben und wie sie es mit der Religion halten. Er selbst, so sagt er, sei Atheist. Gute Voraussetzungen für eine Parabel, die sich ursprünglich um Glaubenstoleranz drehte. Es wäre auch für mich spannend zu hören, welche Antworten die Schauspieler ihm geben, aber diese Frage wird wohl vorerst unbeantwortet bleiben müssen, denn die Sitzung ist aus und die Gruppe löst sich auf, um sich in ein paar Stunden erneut zu treffen – allerdings ohne mich. Ich hab Feierabend und denke über die vielen Eindrücke nach, die mir dieser Tag beschert hat.
Rebecca Telöken
Ich persönlich mochte ja die Ringparabel nie, nicht mal nur, weil ich ihr inhaltlich nicht zustimme (Religionen haben aus meiner Perspektive zwar alle Unrecht, aber sind deshalb ja noch lange nicht gleich.), sondern auch so vom Stil her und eigentlich in jeder Hinsicht, und Nathan der Weise finde ich auch … nicht so wahnsinnig geglückt, prinzipiell.
Aber man kann ja auch aus eher mittelgutem Stoff was machen.
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