“It’s better to burn out than to fade away”
(Vorschaubild (c) Thilo Beu)
Die aktuelle Werther-Inszenierung von Mirja Biel präsentiert eine Neuinterpretation von Goethes Die Leiden des jungen Werther. Sie sucht u.a. die Parallelen zwischen der Werther-Figur und Kurt Cobain, dessen Tagebücher mit in den Abend integriert worden sind. Der fiktive Werther wie auch der ‚reale‘ Cobain gelten als prägende Figuren ihrer Generation. Der bis heute untersuchte „Werther-Effekt“ betrifft beide gleichermaßen: Nach Erscheinen von Goethes Roman häuften sich die Suizide von jungen verliebten Männern, und auch Kurt Cobain prägte mit Musik, Gesellschaftskritik und, ja, auch mit seinem Suizid eine ganze Generation.
Werther ist jung und verliebt, er weiß nicht genau, wer er ist und sucht vergeblich einen Platz in der Welt. Die junge Lotte scheint ihm diesen aufzuzeigen: an ihrer Seite. Doch dieser Platz ist schon besetzt und so ist Werther wieder so verzweifelt wie vorher. Weil er nicht weiß, wohin er gehört und seine vermeintlich einzige, große Liebe ihn nicht will und er sich auch nicht emotional von ihr trennen kann oder will, entscheidet er sich für den Selbstmord.
Cobain wächst zwischen überforderten Eltern in der vorstädtischen Armut auf. Er erlebt, wie ein Freund sich im Kindesalter erhängt, fängt früh an zu rauchen, zu trinken und illegale Drogen zu nehmen. Er fühlt sich von seinen Eltern nicht geliebt, ist schon lange depressiv, bevor es bemerkt wird. Er leidet unter Bulimie und Magersucht, spritzt sich regelmäßig Heroin. Mit dem Erfolg seiner Band kann er nicht umgehen, mit dem verdienten Geld genau so wenig. Er heiratet im Delirium, wird Vater, doch es gibt nur Streit zu Hause, seine Frau verbietet ihm zum Schluss, seine Tochter zu sehen.
Die Gemeinsamkeiten der beiden Männer mögen überschaubar sein, ihre prägende Stellung für ihre Generation steht fest. Die Bonner Inszenierung mischt von Beginn an Werthers Geschichte mit derjenigen Cobains. Von Beginn an werden die Szenen mit Rockmusik und Zitaten aus Cobains Tagebüchern untermalt. Die Inszenierung konzentriert sich trotzdem stark auf die Figuren und ihr Erleben.

Werther im typischen Cobain-Look, mit strähnigen Haaren und verweinten Augen, wird langsam aber sicher verrückt. Am Anfang noch im allgemeinen Weltschmerz verhaftet, trifft er Lotte und seine Welt ändert sich. Er sieht das Gute im Leben und gibt sich seiner leidenschaftlichen Liebe zur ihr hin. Sein Platz scheint gefunden – er ist glücklich.
Biels Lotte ist ein freches, aufreizendes Mädchen, dessen blaue Perücke vielleicht eine kleine Anspielung auf Courtney Love, Cobains Frau und Mutter seiner Tochter, sein soll. Von Goethes Lotte hat man dagegen ein eher naives Bild. Sie ist ein braves Mädchen, das sich um ihre Geschwister kümmert und einen Mann heiratet, weil sie es ihrer Mutter versprach. Dennoch provoziert sie Werther, wohl wissend, was er für sie empfindet. Sie weiß um ihre Wirkung und damit Macht als Frau und nutzt diese gegenüber Werther schamlos aus.
Mit dem von Elektro-Techno-Musik untermalten Auftauchen von Lottes Verlobtem Albert ändert sich jedoch alles: Lotte ist, ob ihrer Verlobung gezwungen, Werther zu verlassen. Albert steht ins Biels Inszenierung für all das, was Werther so sehr gehasst und zu Beginn des Abends verurteilt hat. Ein geleckter junger Charmeur, ein Frauenheld, ein Kapitalanleger. Einer, der sein Geld und seine Klamotten liebt. Plötzlich wird das Drama politisch, die Figur symbolisiert ein System, das vom Raubtierkapitalismus beherrscht wird. Seine Eingangsszene schließt durch einen politischen Monolog über Arbeitsmoral und (angebliches) Schmarotzertum ab. Abgerundet wird der Eindruck von Albert als modernem Mann durch eine eingeblendete wissenschaftliche Erklärung der Liebe als Zwangsneurose.
Alberts Auftreten und die damit unausweichlich werdende Trennung von Lotte ist der Auslöser für Werthers Selbstmordplan, hatte er doch vorher noch versucht Abstand zu gewinnen oder sich wenigstens mit den beiden gut zu stellen. Jedoch scheitern beide Vorhaben – er findet keinen Platz in dieser von Lotte/Albert dominierten Gesellschaft. Biels Inszenierung begleitet ihre Figur nun detailliert von seinem Absturz immer weiter in Richtung Suizid. Der Protagonist, der so aussieht wie Kurt Cobain, aber spricht wie Goethes Werther, erzählt sein Leiden (z.T.) direkt in eine Kamera, sodass das Publikum sein Gesicht in Großaufnahme zu sehen bekommt. Die Bühne ist sehr klein, wodurch Werther wie ein Tiger im Käfig erscheint. Er ist eingeengt und kann seinem Leid nicht entfliehen. Die Szenen werden immer düsterer, Werthers Verzweiflung immer größer.

Wiederholt werden die Szenen durch eingeblendete Werther- und Cobain-Zitate begleitet. Das Ende bildet dabei das bekannteste Zitat, welches fälschlicherweise Cobain zugeschrieben wird, aber eigentlich von Neil Young stammt: „It’s better to burn out than to fade away.“ Der entsprechende Song „my my, hey hey“ begleitet Werther bei seinem dramatisch inszenierten Selbstmord und lässt ihn wie eine Jesus-Statue erscheinen, die im Nebel versinkt. Trotz dieser Dramatik hinterlässt Biel den Zuschauer in einer gewissen Verunsicherung. Aufgrund der zuvor drastisch inszenierten Verzweiflungsspirale Werthers, erwartet man einen großen Knalleffekt zum Ende hin. Durch ein betont ruhiges Finale bricht sie bewusst mit dieser Erwartung und macht das Ende dadurch umso eindrucksvoller.
Wider Erwarten nutzt Mirja Biel keine Nirvana-Songs zur Untermalung des Abends, was auch noch einmal darauf hindeutet, dass sie sich auf die Figuren selbst konzentrieren wollte und weniger auf das Umfeld. So ist auch die Bühne eher minimalistisch gehalten und lebt ganz vom Lichtspiel und den verschiedenen Einspielungen auf der Leinwand. Auch die gesellschaftlichen Schwierigkeiten werden nur durch den Kontrast zu Albert angerissen. Die Ankündigung „nach den Tagebüchern von Kurt Cobain“ lässt Nirvana-Fans vielleicht mehr erhoffen aber die Parallelen bleiben eher versteckt. Stattdessen widmet sich die Inszenierung ganz den konfliktreichen Beziehungen zwischen den drei Figuren Werther, Lotte und Albert beziehungsweise Cobain, Love und dem Rest der Welt.
Die drei Darsteller Benjamin Berger (Werther), Johanna Falckner (Lotte) und Robert Höller (Albert) liefern dabei ein unglaublich wechselhaftes, pathosgeladenes Schauspiel ab. Vor allem Berger glänzt dabei mit einer sehr berührenden Verzweiflung. Als Zuschauer kommt man selbst zu der Überzeugung, dass ihm nicht mehr zu helfen sei, durch seine beängstigend echte Darstellung seiner bzw. Werthers Empfindungen. Diese starke Schauspielleistung lässt die Inszenierung tief auf den Zuschauer wirken. Der Abend ist ein Wechselbad der Gefühle, ein Spiel zwischen Lebensmüdigkeit und Lebensfreude.
Camilla Gerstner & Tabea Herrmann
Goethe ist tot!
Die Leiden des jungen Werther waren in der 10. Klasse auch die Leiden der Schüler im Deutschunterricht. Das berühmte Werk des Johann Wolfgang, dessen Lektüre zu seiner Zeit viele junge Menschen zum Selbstmord motiviert haben soll, ist noch immer Pflichtlektüre für pubertierende Gymnasiasten, welch Ironie.
Die Thematik – Liebeskummer, Verzweiflung, die Suche nach sich selbst und dem Platz in der Gesellschaft – ist natürlich aktuell, die Sprache aber verstaubt, albern und fremd klingend in unseren Ohren. Ein Mann, dessen Namen jeder kennt, auch wenn kaum einer weiß, wer er war. „Jaja, kennt doch jeder. Hier: Wer reitet so spät durch Nacht und Wind und so weiter – oder ist das Schiller?“
Klar, der Erlkönig und sonst? Der Zauberlehrling vielleicht. Da hört es dann aber auch auf. Mein Wissen über den größten und bedeutendsten deutschen Dichter ist begrenzt auf das, was meine Deutschlehrer mir begeistert vortrugen. Faust hab ich halb gelesen, bis ich merkte, wie heuchlerisch das ist. Wir sollen jemanden anbeten, dessen Werke uns in Wirklichkeit langweilen, sollen Phrasen zitieren, die wir nicht einmal verstehen. Kein Mensch hat heute noch die Zeit, die unzähligen Werke dieses Dichters zu lesen, geschweige denn zu verstehen. Natürlich war er ein brillanter Schriftsteller und ein begabter Lyriker, der seine Zeit maßgeblich beeinflusst hat, aber das ist fast 200 Jahre her.
Anstatt dass wir unsere zeitgenössischen Dichter und Denker ehren, verharren wir in einer vorgespielten Anbetung eines längst verstorbenen Mannes. Jugendliche gelten als ungebildet, wenn sie nicht wissen, wer den Erlkönig geschrieben hat, dabei schreiben so viele junge Menschen selbst unglaublich bewegende Lyrik, die z.B. auf Poetry Slams oder in versteckten Blog-Einträgen und YouTube-Kanälen ihre Plattform findet.
Die Frage ist, wie viele Jahrhunderte vergehen müssen, bis unsere Schüler den zweifachen Deutschen Poetry SlamMeister Jan Philipp Zymny im Deutschunterricht besprechen werden. Wie viel Zeit noch ins Land gehen muss, bis unsere Literaturwissenschaftler und Germanisten endlich die Lyrik eines Lars Ruppel, eines Patrick Salmen oder eines Julian Heun verstanden haben werden, welcher einmal schrieb: „Erst, wenn die letzte Metapher zerdeutet, die letzte Silbe zersetzt und das letzte Versmaß zermessen, werdet ihr merken, dass man Gedichte nicht analysieren kann!“
Wir sollten unser Licht nicht unter den Scheffel eines Johann Wolfgang von Goethe stellen, nur weil wir nie in Weimar waren. Ein Schriftsteller muss nicht von Generationen gelesen und vergöttert werden, um gute Bücher zu schreiben und genau den Zahn der Zeit zu treffen. Außerdem sollten alle, die noch keine Zeile von Goethe gelesen und dies auch nicht vor haben, nicht behaupten müssen, er sei der größte deutsche Schriftsteller aller Zeiten, wenn sie doch in Wahrheit lieber Wolfgang Herrendorf lesen oder Marc-Uwe Kling oder sonst wen, der sie beeinflusst, beeindruckt und berührt hat.
Die große deutsche Literatur hat nicht vor 200 Jahren aufgehört, geschrieben zu werden. Es wird oft gesagt, dass Goethe und Schiller auch heute noch von großer Relevanz seien, die Frage ist halt, für wen? Wir interessieren uns nicht für die längst vergangenen Leiden des jungen Werther, nicht weil es ein schlechtes Buch ist oder wir zu dumm sind, es zu verstehen, sondern weil wir unsere eigenen Leidensfiguren schaffen wollen, unsere eigenen Helden und unsere eigenen Märtyrer.
Die Slam Poetin Josefine Berkholz hat dann mal gesagt: „Ich will eine neue Welle der Euphorie, fern vom Gedankengut vergangener Geister. Das Drama ist nach wie vor groß aber veraltet. [..] Lasst uns die Welt in eigene Wunderworte fassen, denn wir sind hier und wir sind am leben.“ – und das ist unser großer Vorteil.
Camilla Gerstner
Goethe lebt!
Oft als toter Klassiker niedergeschrieben, hat Johann Wolfgang von Goethe bis heute immer noch Bedeutung – auch für uns. Seine Werke waren die ersten, die als Weltliteratur galten und damit überall gelesen wurden. Genau wie zeitgenössische Literaten, gehören Goethes Werte zum deutschen Kulturgut und prägen diese Kultur bis heute. Jeder von uns wird Goethe bereits unbeabsichtigt als Sprichwort zitiert haben. Ein Beispiel hierfür wären z.B. „Du sprichst ein großes Wort gelassen aus“ (Iphigenie auf Tauris) oder auch „Allein mir fehlt der Glaube“ aus Faust I.
Goethes Relevanz liegt aber nicht nur in der Zitierfähigkeit seiner Werke. Seine Dramen lassen sich immer wieder neu interpretieren – für jede Zeit bzw. für jeden Leser individuell. Sein in Deutschlands bekanntestes Werk Faust 1 & 2 zeigte erstmals das Bild eines modernen Menschen, der immer mehr möchte und nie mit dem Gegebenen zufrieden ist. Diesen Menschenschlag kann man gerade in der modernen Gesellschaft immer häufiger antreffen. Goethe wirft in seinen Büchern die großen Fragen der Menschheit auf, er macht es einem möglich, etwas für sich selbst den Leser und seine Zeit zu entdecken. Wie der Goethe-Biograf Nicholas Boyle einmal im Spiegel schrieb, geht es „nicht um Realismus, sondern um Symbole“. Auch wenn Goethes Werke schon 200 Jahre alt sind, die angesprochenen Probleme sind noch dieselben.
Auch außerhalb der großen Fragen war und ist Goethe für uns von Bedeutung. So hat er sich neben seiner Arbeit als Dichter auch mit wirtschaftlichen Fragen befasst. In der Goethe-Woche 2012 in Frankfurt wurde vieles davon besprochen. Seine Ausführungen zur Marktwirtschaft sind, trotz der großen Entwicklungen, die seitdem stattgefunden haben, noch immer interessant zu lesen; sein Blick auf den Menschen und das Geld kann heute noch gelten: „Für das größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden lässt, muss ich halten, dass man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist, den Tag im Tage vertut, und so immer aus der Hand in den Mund lebt, ohne irgend etwas vor sich zu bringen.“ (1825)
Goethe als Dichter und Denker wurde (wie viele große Künstler)bereits vor und erst recht nach seinem Tod verehrt und teilweise glorifiziert.. Der Aufbau des kulturellen Denkmals begann bereits kurz nach seinem Ableben mit der Veröffentlichung des zweiten Teils von Faust. Über die Jahre hinweg wurden Goethe und seine Werke dann immer wieder von verschiedenen Parteien vereinnahmt. Es ist daher in jedem Fall zu empfehlen, sich sein eigenes Bild von Goethe und seinen Werken zu machen. Allein seine ausdrucksstarke Sprache ist es wert. So soll er ungefähr 90 000 Wörter der ca. 500 000 Wörter umfassenden deutschen Sprache gekannt haben.
Wer sich auf Goethe einlässt, kann ein großes Stück unserer Kultur entdecken. Was wir in seinen Werken lesen und wie wir ihn für uns interpretieren, bleibt jedem selbst überlassen. Vielleicht entdeckt man dadurch etwas schönes oder inspirierendes Neues in seinem Leben– „Und doch, welch Glück, geliebt zu werden, und lieben, Götter, welch ein Glück!“ – wäre ein guter Anfang.
Tabea Herrmann