Vorschaubild (c ) Thilo Beu
Kritik der Premiere von Unsere Welt neu denken – Ein Einladung am 10.09.2021:
Dass die Inszenierung eines Sachbuches Standing Ovations bekommt, erlebt man nicht häufig. Regisseur Simon Solberg gelingt dieses Kunststück, indem er seinen Schauspielern Raum gibt, diese Fachmaterie mit Emotionen und seichtem bis schwarzen Humor zu füllen. Auch die Live-Band tut das Ihrige dazu, das Publikum ästhetisch anzusprechen. Kritik der Premiere von UNSERE WELT NEU DENKEN: EINE EINLADUNG am 10.09.2021 im Schauspielhaus.
Für die Inszenierung des wirtschaftskritischen Sachbuches „Unsere Welt neu denken: Eine Einladung“ von Maja Göpel wird das Publikum in ein Labor eingeführt. Vier Schauspieler zeichnen die Entwicklung der Wirtschaft und ihrer wissenschaftlichen Betrachtung der letzten Jahrhunderte nach, indem sie abwechselnd immer wieder in verschiedene Rollen als namenlose Labor-Wissenschaftler, deutlich auch am Laborkittel zu erkennen, und als Figuren und Akteure der Wirtschaftsgeschichte und Gegenwart schlüpfen. So wird unser Wirtschaftsverständnis, die ihr zugrundeliegend Theorien und unser eigenes Handeln in der Wirtschaft auf sehr ansprechende und durchaus auch inspirierende Weise dargestellt. Allerdings ist die Kritik am Wirtschaftssystem im Stückmeist zu kurz und zu einseitig gehalten. Manche Kritik, wie die ungleichmäßige Verteilung des Eigentums, erscheint als Binse; ohne die zu erwartende Inspirationen zu Lösungsansätzen zu bieten.
Neben der herausragenden Gesamtleistung der Schauspieler*innen Linda Belinda Podszus, Alois Reinhardt und Annika Schilling, ist besonders Daniel Stock mit seiner grandiosen Darstellung des Homo Economicus hervorzuheben. Diesem, für die Wirtschaftswissenschaften essentiellen und immer nur theoretisch betrachteten, Gedankenkonstrukt gibt er eine Gestalt. Dieser Homo Economicus wird –ähnlich einer Buddha-Statue–in Gold dargestellt als Sinnbild des Kapitalismus. Dabei geht er über eine einfache Parodie hinaus und ermöglicht eine humorige wie auch tiefgründige Auseinandersetzung mit dieser, in den Wirtschaftswissenschaften allgegenwärtigen, Grundannahme.
Die partizipativen Elemente schaffen eine teilweise spaßige oder ernste Verbindung zum Publikum, nehmen aber vom Umfang nicht viel Raum ein. Durch Abstimmung über Multiple-Choice-Fragen kann das Publikum ab zu kurz Einfluss darauf nehmen, welches Thema von einem Schauspieler dramatisch dargestellt werden soll.
Zur Unterhaltung, aber auch zur emotionalen Unterstreichung der wirtschafts- und gesellschaftskritischen Thesen, werden Szenen immer wieder mit kurzen Musik- und Tanzeinlagen der Live-Band, bestehend aus Lukas Berg, Jonas Lorenz und Friedrich Dinter sowie den Schauspielern, abgeschlossen. Dabei werden bekannte Werke aus der Pop-Musikinterpretiert, von denen einige mit eigenem kritischem Inhalt die Inszenierung unterstreichen. Die musikalischen Einlagenwurden bei der Premiere mit Szenenapplaus bedacht.
Spannend ist auch die vom Publikum nicht direkt wahrgenommene Form als Open-Source-Projekt. Dies bedeutet hier, dass Ideen für die Solberg-Inszenierung z. T. aus einem zugänglichen Poolstammen bzw. inspiriert sind, der von Theatern aus dem deutschsprachigen Raum gefüllt wird. Neue Ideen aus der Inszenierung bzw. die ganze Spielfassung werden entsprechend für andere Inszenierungen über diesen Pool zur Verfügung gestellt. So ordnet sich auch ihre Entstehung in die dynamische, offene Inszenierung mit ihrer implizierten Forderung ein, neue Wege zu gehen. Die Dynamik spiegelt sich selbst im Programmheft wider, das um ein digitales Format erweitert wurde, welches u. a. Elemente des Open Source-Projektes enthält und dessen laufende Ergänzung angekündigt ist.
Alles in allem ein geglücktes Experiment!
Jorg Stephan Kahlert