Lenz – von einem, der auszog, den Wahn zu besiegen (und scheiterte)

( (c) Vorschaubild: Thilo Beu)

Es war soweit: Auf den Tag genau, nach sechs Monaten des Corona bedingten Stillstandes, fand im Schauspiel Bonn wieder eine Premiere statt und Theatral war dabei. Seit dem 10. September wird nun Georg Büchners Erzählung LENZ im Schauspielhaus Bad Godesberg gespielt. Inszeniert wurde die Geschichte um den jungen Schriftsteller Lenz von Armin Petras (Regie) mit Unterstützung von Carmen Wolfram (Dramaturgie). Petras ist das erste Mal in Bonn, er ist jedoch bereits an vielen Theatern gewesen und hat auch u. a. den Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreis erhalten.

Doch bevor es richtig losgehen konnte, stellte sich mir das neue Sicherheitskonzept des Theaters vor: Fünf Hand-Desinfektions-Stationen sind am Eingangsbereich des Theaters aufgebaut, die Kontaktdaten werden abgefragt und bis man auf dem Platz sitzt, muss der Mundschutz anbehalten werden. Das freundliche Theaterpersonal wachte mit Argusaugen darüber, sodass alles reibungslos verlief. Ein Problem kam mir erst in den Sinn, als ich bereits meinen Platz eingenommen hatte (und schon fast vergessen hatte, dass ich jetzt den Mundschutz wieder ausziehen darf): Werde ich den Mundschutz aufziehen müssen, falls mir nach Standing Ovations sein wird? Diese Frage verschob ich auf das Ende der Vorstellung …

(c) Thilo Beu

LENZ wurde möglicherweise vor dem noch bekannteren Büchner-Drama „Woyzeck“ fertig gestellt. In der Erzählung widmet sich Büchner dem tatsächlich einst existierenden Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792): einem ursprünglich aus Seßwegen (Cesvaine) in Lettland stammenden Schriftsteller. Dieser hatte u. a. die Dramen „Die Soldaten“ und „Der Hofmeister“ verfasst, die Georg Büchner, als er sie knapp hundert Jahre später las, wohl stark beeindruckt hatten. Büchner zitiert viel aus Briefen von Lenz und auch aus den schriftlichen Beobachtungen des Pfarrers Oberlin – doch halt: Wer ist dieser Pfarrer? Dieser Pfarrer, der zusammen mit seiner Frau im elsässischen Wald(ers)bach lebt, ist ein Freund von Lenz. Er kommt zu ihm nach einer winterlichen Wanderung im Gebirge, wo sich bereits erste Anzeichen seiner Krankheit zeigen, (was er genau hat, ist nicht klar, häufig wird Schizophrenie genannt). Doch trotz der Pflege und Hilfe des Ehepaares Oberlin verschlimmert sich der geistige Zustand Lenz‘ immer weiter.

Armin Petras Inszenierung beginnt gut – eine abstrakte Bergspitze ragt aus der Bühne heraus (Bühne: Tom Musch), es ist dunkel und einsam, später begleitet ein großer Vollmond weite Teile der Inszenierung. In gut sitzenden und aussehenden braun-beigen Dreiteilern und steifen Zylindern (Kostüme: Katja Strohschneider) betreten gleich drei Lenze die Bühne. In ihren Händen halten sie Gegenstände, Symbole für die Dinge in ihrem Leben, die sie vor dem Wahnsinn schützen sollen und ihr Wesen berühren: Blumen als Zeichen der Naturbetrachtung, ein Kreuz für den Glauben und Bücher für die Kunst der Schriftstellerei. Durch sie findet Lenz anfangs aus den Wahnvorstellungen, die vor allem nachts, wenn er allein ist und in ein „Nichts“ zu stürzen droht, auftauchen wieder zurück in die Realität. Lenz ist sensibel und zurückhaltend – wie ein Kind. Ganz anders der Pfarrer Oberlin (Daniel Stock), der energisch, gut gelaunt und offen den jungen Ankömmling gleich herzlich aufnimmt. Hier gibt es auch die erste komische Corona-Anspielung, denn die Begrüßung geschieht nicht per Umarmung, sondern mit einem Begrüßungs-Fuß-Tip (Foot Shake). Auch tragen die Darsteller zwischendurch die Masken. Was anfangs irgendwie witzig ist, bekommt später aber auch einen fast gruseligen, zumindest leicht surrealen, Beigeschmack. Schließlich nehmen die Masken jede Emotion aus den Gesichtern und verwandeln die Figuren in gleich aussehende „Puppen“.

(c) Thilo Beu

Zu Beginn ist alles eine recht stimmige und durchaus zum Schmunzeln verleitende Collage aus Musik, Dia- wie auch Monologen und tanzähnlichen Choreographien, wenn Lenz z. B. den Frauen beim Mähdreschen zusieht. Lenz mag das Landleben und die Ruhe, vor allem auch die freundlichen Leute. Doch umso mehr der Wahn in ihm Furchen schlägt, zerfällt er in mehrere Personen, reißt sich wieder zusammen, um erneut zu zerfallen. So ähnlich scheint es auch Petras Inszenierung zu ergehen – sie zerfasert ab dem Punkt, wo Lenz‘ alter Bekannter Kaufmann auftaucht. Mit diesem nicht gern gesehenen Besuch entwickelt sich ein Gespräch über Kunst. In diesem lehnt Lenz den wirklichkeitsverneinenden Idealismus seiner Zeit deutlich ab und tritt stattdessen für einen Realismus ein, der die Grausamkeit der Welt nicht einfach ausblendet, sondern sie so nimmt, wie Gott sie für gut befunden habe. Diese natürlich etwas steile These widerspricht jedoch sehr Lenz‘ eigenem Verhalten, denn ihm fällt es immer schwerer zwischen Traum und Realität zu unterscheiden und so fragt sich auch der Zuschauer, ob das was er sieht nun der Wahrheit entspricht oder schon Produkt des erkrankten Geistes ist.

Die Inszenierung ist in dieser Hinsicht stringent und findet für Lenz‘ Gemütszustand immer wieder starke Bilder, die von den ausdrucksstarken Schauspielern (in mehreren Rollen: Christian Czeremnych, Annina Euling und Christoph Gummert) expressiv verkörpert werden. Trotzdem bleiben Momente, deren Länge sich nicht ganz erklären lassen, so z. B. wenn die Frau von besagtem Freund Kaufmann, die im Original nur in einem einzigen Nebensatz erwähnt wird, dann aber gleich von drei Schauspielern minutenlang beim Tränken ihrer mitgereisten Pferdekutsche gezeigt wird. Kaufmann selbst bleibt interessanterweise unsichtbar. Dagegen ist die Szene, in der der Pfarrer sich langsam bewusst wird, dass er mit Lenz Wahn nicht mehr umzugehen und ihm auch nicht weiter zu helfen weiß, umso berührender: Sich gegenüber kniend, in einem sinnlosen Hin- und Her von Freundschaftsbeteuerungen, (Ab-)Bitten und Verzeihungsausrufen untermalt der Rap-Song „Geh‘ ran“ des Künstlerduos Kitschkrieg und Trettmann die Szenerie hervorragend. Im Song singt Trettmann über den Selbstmord eines Freundes.

„Dein Telefon, es klingelt, irgendwer ruft an,
als wär‘ alles so wie immer, doch du gehst nicht mehr ran.“

Kitschkrieg & Trettmann – „Geh‘ ran“

Das vierköpfige Schauspielensemble hat jedenfalls alles gezeigt – vor allem, dass sie hungrig aufs Spielen waren. Auch wenn die Inszenierung vielleicht nicht in allen Punkten gelungen war, hat sie es dennoch geschafft, möglichst viele Aspekte um die Person des Lenz‘ und so auch Büchners, der ihr in manchen Punkten ähnelte, darzustellen. Vielleicht auch nicht uninteressant, dass der in dem Werk doch recht breite Punkt der Religion hier nicht weggekürzt, aber auch nicht albern verstellt wurde. Insofern hat Petras eine zwar nicht durchgängig ernste, aber dennoch ernsthafte Auseinandersetzung mit den Themen der Erzählung betrieben.

Nun, zuletzt die Frage nach dem Mundschutz und der Standing Ovations: Es wurde viel applaudiert und auch gejubelt, aber falls ich mich nicht irre, einigten sich alle stillschweigend darauf, auf ihren Sitzen zu bleiben. Vielleicht waren sie sich auch nicht sicher, ob man den Mundschutz aufziehen hätte müssen, oder nicht.

Rebecca Telöken

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