(Vorschaubild (c) Thilo Beu)
Eine Jugend, die von Rassismus, Hass und Gewalt geprägt ist und ein Lehrer, der versucht, der Erziehung der Schüler zu empathielosen Maschinen entgegenzuwirken – im 1937 erschienenen Roman Jugend ohne Gott beschreibt der österreich-ungarische Schriftsteller Ödön von Horváth die Verrohung einer ganzen Generation. Und genau mit dieser gegenwartsrelevanten Thematik ging der Regisseur Dominic Friedel in Zusammenarbeit mit 17 Jugendlichen im Schauspielhaus am 27.4. auf die Bühne.
Im Mittelpunkt der Handlung, die zur Zeit des Nationalsozialismus spielt, steht ein junger, namenloser Lehrer (gespielt von Sören Wunderlich), der vor seiner Klasse die Aussage trifft, auch „Neger“ seien Menschen. Aus diesem Grund gerät der Lehrer in Konflikt mit den Eltern der Klasse – und auch den Schülern selbst, die einen Brief an den Lehrer verfassen und fordern, von einer anderen Lehrkraft unterrichtet zu werden. Doch der Lehrer unterrichtet sie auch aus Trotz weiter. Er begleitet die Schüler als Aufsichtsperson in ein paramilitärisches Ferienlager, in dem die Schüler mit Begeisterung den Dienst an der Waffe lernen. Nachdem es dort zu einem Mord an einem der Schüler kommt, beginnt ein Prozess, in den auch der Lehrer verwickelt wird.

Horváth zeichnet das Bild einer Gesellschaft, in der Wahrheit kein Ideal mehr darstellt. In diesem „Zeitalter der Fische“, in dem die Schüler nur als Kollektiv agieren, sind sie ihrer Identität beraubt: Die Schüler tragen keine Namen, sondern werden nur mit den initialen Buchstaben ihres Vornamens angesprochen. Der Lehrer, der die Werte seiner Zeit zwar verachtet, sich aber dennoch weitestgehend systemkonform verhält, ist scheinbar der einzige, der noch nach der Wahrheit sucht, was vor allem in den Szenen des Gerichtsprozesses deutlich wird. Seine Schüler hingegen verhalten sich in seinen Augen wie Fische: Sie haben keine eigene Meinung und sind in ihrem Denken und ihrem Verhalten ausschließlich von gesellschaftlichen Normen geprägt. Dass dies aber eine weitestgehend subjektive Sicht der Dinge ist, wird der Leser des Romans oder der Zuschauer der Inszenierung spätestens zum Schluss erkennen. Die ständigen Perspektivwechsel der Inszenierung, in welcher ein erwachsener Schauspieler (Christian Czeremnych) in vielen Szenen zu Beginn des Stücks Schüler verkörpert und die Schüler chorisch die Rolle des Lehrers sprechen, lassen vermuten, dass Dominic Friedel diese wertende Perspektive des Lehrers auf die ihm so verhassten „Fische“ erfahrbarer und offensichtlicher machen will. Doch nicht nur die Figurenrede unterliegt einem ständigen Perspektivwechsel, auch das wunderbar mobile Bühnenbild, das durch zwei schwarze Tribünen dominiert wird, die ständig umhergeschoben werden, erlaubt eine rasche Änderung des Ortes und unterstreicht die spielerische Leichtigkeit und Energie der Schauspieler (Bühne: Julian Marbach).
Dass die Jugendlichen eine solche Energie auf die Bühne bringen, mag aber nicht zuletzt an der intensiven Vorbereitung liegen, die schon Mitte Januar begonnen hatte. In den ersten Monaten traf sich die Gruppe regelmäßig an Samstagen und diskutierte auf Grundlage des Romans über wichtige gesellschaftliche, aber auch zwischenmenschliche Probleme. Es wurde viel über Gott, den Klimawandel, Wahrheit und Wirklichkeit, populistische Politik von damals aber auch von heute geredet und besprochen, welche kritischen Aspekte des Romans die Jugendlichen überhaupt beschäftigen. Aus dieser Workshop- und Probenphase gehen wohl auch einige Szenen hervor, die an Übungen aus dem theaterpädagogischen Bereich erinnern. Der Regisseur Dominic Friedel erhielt hierfür tatkräftige Unterstützung von einer neuen Theaterpädagogin am Theater Bonn, Susanne Röskens, die viel zur wunderbaren Gruppendynamik beigetragen hat. Eine dieser durch Übungen inspirierten Szenen findet sich gleich zu Beginn des Stücks: sehr eindrucksvoll lassen die Schüler Zisch- und Fauch-Laute sowie zum Teil geflüsterte Sätze zu einem bedrohlichen Klangteppich werden lassen, dessen Wirkung man sich nicht entziehen kann. Wie viel Wert auf den Gruppenzusammenhalt und die Individualität des einzelnen gelegt wurde, lässt sich auch aus der Selbstverständlichkeit herauslesen, mit der die Jugendlichen die Bühne betreten.

„Die Pfade der Schuld berühren sich, kreuzen, verwickeln sich. Ein Labyrinth. Ein Irrgarten – mit Zerrspiegeln. Jahrmarkt, Jahrmarkt! Hereinspaziert, meine Herrschaften! Zahlt Buße und Strafe für die Schuld Eures Daseins! Nur keine Angst, es ist zu spät!“ In diesem Satz vereinigen sich die wichtigsten Aspekte des Stücks: die Frage der Schuld und deren Verstrickungen. Sehr gelungen bringt Dominic Friedel die Verschmelzung von Horváths Biographie als Autor im Nazistaat und seine eigene Verstrickung in Schuld mit der Schuld des Lehrers in dem Roman auf die Bühne. Denn beide, der Lehrer und der reale Autor Horváth versuchen zwar, in einem opportunistischen Umfeld gegen den Strom zu schwimmen, haben aber ihre Schwierigkeiten dabei. Der Lehrer allerdings schafft es, seine Ängste und eigenen Schuldgefühle am Ende des Stücks für die reine Wahrheit beiseite zu schieben. Den Roman, so wohl die Interpretation des Regisseurs, schrieb Horváth, um sein Gewissen rein zu schreiben, und den Lesern zu zeigen, wie etappenreich und verwinkelt, eben wie ein Labyrinth, die Schuld dem einzelnen auflauern und ihn in die Irre führen kann.
Wie Regisseur und Schauspieler es schaffen, diese bitter böse und düstere Geschichte gezeichnet von Hass, Einsamkeit und Egoismus mit einer zu Teilen sehr lustigen und beißenden Ironie zusammen zu bringen, beeindruckt sehr. Die unbedingt kritische und ablehnende Haltung der Beteiligten gegenüber dem rechten Gedankengut des Stücks wird dadurch subtil und ohne jemals plakativ zu sein, klar vermittelt. Eine wirklich gelungene und dabei moderne Inszenierung, die dem Zuschauer mehr mitgibt als nur Angst vor einer alten oder neuen rassistischen Strömung. Sie vermittelt das Gefühl von Zusammenhalt und Hoffnung auf eine Welt mit weniger Ideologien und postfaktischer Gefühlspolitik, in der es vor allem darauf ankommt sein eigenes Ego unter Beweis zu stellen. Außerdem warnt es ihn davor, die Wahrheit zu Gunsten der eigenen Angst oder des Stolzes zu opfern.
Frederike Hubl & Henriette Wöllnitz