Die Ratte in der Wand

(Vorschaubild (c) Thilo Beu)

DIE RATTE nach Gerhard Hauptmann feierte am 27. März in der Foyerbühne in der Werkstatt Premiere. Regisseurin und zugleich Darstellerin ist das Ensemble-Mitglied Sandrine Zenner.

Techno, Drogen, Einsamkeit, Verlust und der sehnliche Wunsch nach einem Kind, um das man sich kümmern kann. So sieht die Lebensrealität von Jette John aus, die in der sogenannten „Wanzenburg“, einer ehemaligen Kaserne in Berlin. Das an „Die Ratten“ von Gerhardt Hauptmann angelehnte Ein-Personen-Stück ist von Sandrine Zenner in die 80iger Jahre hineinverlegt worden und an die Realität von Billiglohn-Kräften und Hartz-IV-Empfängern angepasst worden. Dennoch beschäftigt sich das Stück vorwiegend mit den Problemen des endenden 19. Jahrhunderts, mit welchen Jette John und ihre Mitmenschen konfrontiert wurden. So zum Beispiel die furchtbaren Hygienezustände in den Arbeitermilieus oder die aus der Not und dem Hunger hervorgehende Kleinkriminalität, der auch Jettes Bruder Bruno verfällt welcher in Zenners Version unter Drogeneinfluss bei einem Autounfall stirbt.

(c) Thilo Beu

Die Haltlosigkeit des Menschen am Anfang des 20. Jahrhunderts und dessen Hilflosigkeit in einer sich immer rascher verändernden Welt spiegelt sich in der Inszenierung im Bühnenbild wider. Es besteht aus einfachem Mobiliar, das mit Ausnahme der Toilette schief im Raum steht. Nichts in Jettes Welt scheint noch Halt zu haben, noch ihr zu geben. Sie ist von Einsamkeit gepeinigt und schuftet schwer als Putzfrau, in ihrer eigenen Wohnung jedoch ist es schmutzig und eine Ratte wohnt in ihrer Wand. Diese Ratte treibt sie zur Verzweiflung. Der Eindringling umkreist sie und wirft sie immer wieder aus der Bahn. Sie kann gedanklich nicht lange bei anderen Dingen verweilen, sie fühlt sich umzingelt und kreist immer wieder nur um sich selbst, findet keinen Ausweg aus den sie vereinnahmenden Umständen. Auch der Zuschauer fühlt sich bald verfolgt und gehetzt von dem unerwünschten Ungeziefer, das Jette John in ihrem Selbstgespräch mit ihrem toten Bruder oft unterbricht.
Weil Jette mit ihrem Bruder eine inzestuöse Beziehung führte, etwas was Zenner dem Original hinzufügt, kann sie den Tod ihres Bruders seelisch nicht verarbeiten und hält ihn als Teil ihrer selbst durch Zwiegespräche für sich am Leben. Zu anderen Menschen hat sie nur flüchtigen Kontakt so zum Beispiel über das Telefon. Sie wirkt wie eingesperrt in ihrem Zimmer und damit auch in ihrer von Depression geplagten dunklen Gefühlswelt.
Durch den Einsatz melancholischer Musik, versucht Sandrine Zenner diese traurige Grundstimmung der Figur zu untermalen und den Zuschauer in Jettes sinnentleerte, einsame Welt eintauchen zu lassen. Der Eskapismus Jettes und ihr Versuch, die realen Umstände zu vergessen, werden deutlicher durch den etwas ironischen Einsatz von Techno-Musik (Hyper-Hyper), zu der Jette an einer Stelle des Stücks hemmungslos und wie im Wahn anfängt zu tanzen.
Jettes Traurigkeit rührt nicht nur von dem unüberwindbaren Verlust ihres geliebten Bruders her, sondern hat ihre Quelle auch in dem starken und unerfüllten Wunsch nach einem Kind. Im Original verliert Jette ihr Baby an einer Krankheit. Daraufhin versucht sie, einem Dienstmädchen (Pauline) ihr Kind abzukaufen und es als ihr eigenes auszugeben. Dieser starke Kinderwunsch kommt in Zenners Stück besonders in einem Telefonat mit jener frisch gewordenen Mutter Pauline heraus, in dem Jette vollkommen egozentrisch anfängt, darüber zu monologisieren, wie sie selbst sich um ihren kleinen Säugling kümmern würde, so weltvergessen, dass sie gar nicht bemerkt wie Pauline auflegt. Dieses Vorhaben scheitert jedoch, woraufhin sie sterben will, jedoch nicht tut, worin ein eklatanter Unterschied zu Hauptmanns Frau John besteht, die sich zum Schluss vor den Pferdekarren wirft.

(c) Thilo Beu

Neben der Traurigkeit hegt Jette zudem eine stark ausgeprägte Verachtung für die aus ihren Augen rücksichtslose Männerwelt, die in diesem Monolog-Telefonat ebenfalls deutlich zu Tage tritt. Sie ist hin und hergerissen zwischen ihrem Kinderwunsch und der Angst vor dem sozialen und finanziellen Abstieg, falls sie vom Vater des Kindes verlassen wird. Hier wird zwar ein zeitloses Problem, aber dennoch ein besonderes des frühen 20. Jahrhunderts aufgegriffen, da die Anti-Baby-Pille noch nicht erfunden und die Frauen damit ständig in der Gefahr einer ungewollten Schwangerschaft waren, sobald sie sich auf einen Mann einließen. Die fehlende Selbstbestimmung durch eine sichere Verhütung ist wohl auch mit ein Grund, warum Jette John sich nicht aus ihrem kleinen Zimmer hinaus trauen möchte. So kreist sie weiter um sich selbst und die Ratte wandert von Wand zu Wand um sie herum.

Ich persönlich empfand es als sehr eindrucksvoll wie Sandrine Zenner die bedrückende Geschichte Jettes in etwas durchaus Humorvolles verwandeln konnte. Immer wieder lacht das Publikum herzhaft und zeigt sich beeindruckt von dem Mimik- und vor allem Stimmenspiel der jungen Schauspielerin, die es ohne Probleme schafft, zwei Personen unterschiedlichen Geschlechts, Jette und ihren toten Bruder, in Berlinerisch auf die Bühne zu bringen. Besonders bleibt mir der „Griff-ins-Klo“ im Gedächtnis, der den Zuschauern auf eine viel eindrücklichere Weise die hygienischen Zustände in Jettes Welt näherbringt, als es jedes schäbige oder schmutzige Bühnenbild je könnte. Selbst die romantische Beziehung zu ihrem Bruder vermag zu berühren und schafft weiteres Verständnis für Jettes Zurückgezogenheit, da sie mit keinem Mitmenschen über ihren wirklichen Verlust sprechen kann.
Zusammengefasst kann man sagen, dass das Stück mit wenigen und höchst wirksamen Mitteln eine interessante Figur, ihre Ansichten, Wünsche und Ängste sowie ihre determinierende Umwelt verständlich und dabei subtil und nicht plakativ auf die Bühne bringt.

Henriette Wöllnitz

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