Das Tagebuch des Terrors

(Vorschaubild (c) Thilo Beu)

Ein Tatort radikaler Sensationslust

Die Inszenierung des Politthrillers „Radikal“ von Yassin Musharbash feierte am Sonntag, den 21 Mai 2017 Premiere und sorgte mit einer Mischung aus eindrucksvollen Bildern und sprachlich starken Texten für einen aufrüttelnden und spannenden Abend auf der Werkstattbühne.

Der Stoff der Handlung hätte auch gut der eines Spielfilmes sein können: Als sich die Terrorgruppe Al-Quaida zu dem Attentat an Lutfi Latif, einem Politiker mit ägyptischen Wurzeln, bekennt, entwickelt sich auf den Straßen und innerhalb der Medien Deutschlands ein durch etwaige Vorurteile und Rassismus angestachelter Kampf um Informationen. Eine kleine Gruppe, bestehend aus Samuel Sonntag (Daniel Gawlowski), einem Islamexperten, Sumaya al-Shami (Katharina Hackhausen), der Assistentin Latifs und ihrem Cousin Fadi (Alois Rheinhardt) sowie Merle (Lena Geyer), einer führenden Globus-Journalistin, macht sich die Aufklärung des Attentates zur Aufgabe. Gemeinsam bewegen sie sich in einem rechtsradikalen Raum, der geprägt ist von Islamhass, Anonymität und Menschen mit falschen Gesichtern.

(c) Thilo Beu

Schon während des Einlasses, der mich vorbei an einem auf der Treppe sitzenden Schauspieler mit neugierigen Augen führt, welcher die eintretenden Passanten durchdringend betrachtet, bis hin zu meinem Platz, erregt das imposante Bühnenbild meine Aufmerksamkeit. Die durch gitterartige Trennwände unterteilte und an ein Labyrinth erinnernde Kulisse erweckt durch den Einsatz von Nebel sowie diversen Fotografien und Notizen auf dem Boden den Anschein von realem Chaos eines Tatortes nach einem Anschlag.

Die acht durch die Trennwände entstehenden Zwischenräume fungieren auf der Bühne vor allem als Symbole der verschiedenen politischen Perspektiven der Charaktere auf die der Zuschauer so Einsicht erhält. Auch wenn die Schauspieler während der Vorstellung immer wieder in verschiedene Rollen schlüpfen, sind sie nicht direkt ein Teil der von ihnen dargestellten Handlung und spielen auf einer Art analytischen „Nullebene“, welche den nötigen Raum für ernste Diskussionen auf der Suche nach einer Lösung und Aufklärung des Falls bietet.

(c) Thilo Beu

Bereits vor Beginn des Stückes ist abzusehen, dass es nicht das Ziel des Abends ist, den Zuschauer in eine tatortähnliche Illusion zu entführen, um die Sensationslust der anwesenden Gaffer zu befriedigen, sondern auf die möglichst realitätsgetreuen, durch Misstrauen entstandenen Missstände im Alltag aufmerksam zu machen. Regisseurin Mirja Biel und Dramaturgin Elisa Hempel setzen aus diesem Grund vor allem auf das Mittel der Selbstreflektion oder Selbsterkenntnis, wobei man sich als Zuschauer immer wieder dabei ertappt, dass bei ihm durch die heutzutage normal gewordene Oberflächlichkeit  Verdächtigungen und Vorurteile entstehen und der damit einhergehende zunehmende Rechtsruck der Gesellschaft die eigene Wahrnehmung zu beeinflussen bedroht. Hierbei setzt das Team neben starken technischen Effekten wie beispielsweise plötzlichen Explosionsgeräuschen und Schockmomenten auch auf szenische Aktionen wie ein explodierendes Mehlpaket im Supermarkt. Dieser Vorgang wird durch einige bei den Proben mitgeschnittene Diskussionsfetzen des Ensembles unterstrichen, wobei man durch das Schaffen persönlicher Berührungspunkte die Realität der Problematik betont und die Zuschauer mit dieser zu konfrontieren versucht.

(c) Thilo Beu

Im Fokus der Handlung stehen neben der Darstellung der verschiedenen politischen Perspektiven und gesellschaftlichen Funktionen mit dem Ziel, den Begriff „Radikal“ zu klären, vor allem die modernen Medien. In diesem Zusammenhang wird nicht nur die Vertrauenswürdigkeit der Nachrichten und anderer Informationsquellen mithilfe eines sich auf der Wand selbst schreibenden Artikels dargestellt, der die Schauspieler zwingt, ihre Ansätze ständig zu überdenken, sondern auch auf die einfache Verbreitung verschiedener Überzeugungen im Internet eingegangen. Es ist demnach kein Wunder, dass es auf diesem Terrain des Populismus hippe, rassistische Propaganda gibt und zahllose Logos als deren zynische Sinnbilder überall im Stück zu finden sind.

Als Zuschauer fühlt man sich hilflos und wünscht sich das sprichwörtlich genommene „Licht im Dunkeln“ herbei, oder eben irgendwen, der nicht nur auf der Bühne, sondern auch in der Handlung aufräumt. Das Szenario rund um ein Attentat im rechtsradikalen und rassistischen Raum mit dem Wunsch nach dessen Aufklärung wirkt sehr real und führte auch zu meiner persönlichen Beklemmung während der Vorstellung. Spätestens nach der Hälfte des Stücks kam ich mir vor wie ein sensationslustiger Gaffer, der versucht, Fotos von einer Leiche zu machen und für den ich mich bis jetzt nie gehalten hatte. Eine Empfehlung also für diejenigen, die sich nicht weiter in Sicherheit wiegen möchten und bereit sind, ihre persönliche Lebenswelt in Frage zu stellen.

Kim Sterzel

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