(Vorschaubild (c) Thilo Beu)
Der Stoff für Anja Hillings Auftragswerk „Massiver Kuss“ für das Theater Bonn ist die spannungsgeladene Beziehung zwischen Camille Claudel und dem 24 Jahre älteren Auguste Rodin, die geprägt ist von Diskussionen, Konflikten und Gefühlsausbrüchen. Zugleich basiert sie jedoch auch auf der gemeinsamen Passion der Bildhauerei und gegenseitigen Bereicherung mittels Inspiration. Das Stück ist eine Inszenierung der Regisseurin Friedericke Heller. Aufführungsort ist die Werkstatt Bonn; am 29. September feierte das Stück Premiere.
Eingeleitet wird der Abend mit einer kleinen Ansprache der beiden Hauptdarsteller, die die Thematik vorstellen und das Ende des auf wahren Begebenheiten beruhenden Theaterstücks vorwegnehmen: „Er kommt zur Ruhe, sie in die Anstalt.“ Diese Hintergrundinformation ist nicht unwichtig, zumal man sich als Zuschauer das ein oder andere Mal im Laufe der Aufführung tatsächlich fragt, worauf die Handlung hinauslaufen soll, ständig pendelnd zwischen lautstarkem Disput und verhältnismäßigem Frieden.
Bereits der einleitende Monolog Bernd Brauns, der Rodin verkörpert, lässt erahnen, dass es ein anspruchsvoller Abend wird, der ein hohes Maß an Konzentration seitens des Zuschauers erfordert. Irgendwo im Publikum flüstert jemand: „Das war jetzt ein langer Satz…“ Es folgt die erste Begegnung zwischen Rodin und Camille (Laura Sundermann), die bereits in einer Diskussion über eine Skulptur des Bildhauers und der Belehrung der rebellischen und temperamentvollen Camille mündet. Von Beginn an ist eine sexuelle Spannung zwischen den beiden zu spüren – es dauert nicht lange, da nimmt Rodin den ersten körperlichen Kontakt zu seiner zukünftigen Schülerin und Mitarbeiterin auf, indem er sie selbst als menschliche Skulptur in Position rückt. Rodin fordert die junge Frau (zwanzigjährig, wie man im Verlauf des Stückes erfährt) auf: „Krempel deine Symmetrie mal nach außen – es wäre ein Blutbad!“ Camille muss eine Flut von kritischen Worten über sich ergehen lassen, ihr Kontern wirkt trotzig und kindlich, bis hierhin noch nicht annähernd ebenbürtig mit dem vom Leben gezeichneten Rodin.

Über wildes Wortgefecht, einer bis auf Unterwäsche den Oberkörper entblößenden Camille, beiderseitigem Schreien in das auf der Bühne positionierte Klavier und dem ersten Kuss zwischen den Künstlern, entwickelt sich die Beziehung zwischen den charakterlich so unterschiedlichen Figuren. Camille erlangt zunehmend Macht über Rodin. Sie kann ihn zur Selbst- sowie Lebensreflexion anregen durch Ausrufe wie: „Denkst du daran, dass es mich zerstören könnte, wenn du mich bearbeitest, ohne meine innere Wirklichkeit zu sehen?“
In der Inszenierung vergehen Augenblicke, in der darin thematisierten Beziehung Jahre. Es schleichen sich Themen wie Eifersucht, Trennungsgedanken und Konkurrenzkampf ein – als Rodin Camille anbietet, sie zu dem Künstler Renoir mitzunehmen, fragt sie hysterisch: „Als was?!“ Dass die junge Frau sich von ihrem Lehrer, Vorbild (und Partner?) nicht ernstgenommen, geschweige denn ebenbürtig behandelt fühlt, ist offensichtlich. Aber sie kämpft um Ansehen und Emanzipation, mit jeder Faser ihres Körpers, verbal und nonverbal. Selbst Camilles Offenbarung, sie sei an der Akademie aufgenommen worden, beeindruckt Rodin nur mäßig. Er gratuliert ihr ruhig, sein Lob wirkt gnädig und überheblich. Camille kann schließlich nicht mehr an sich halten und gesteht Rodin erstmals wortwörtlich: „Ich will Du sein!“. Dieser jedoch hat mittlerweile selbst mit einer ernsthaften Schaffenskrise zu kämpfen und erkennt nicht die Tragweite von Camilles sehnlichstem Wunsch, ihrem inneren wie äußeren Kampf und Sich-verzehren.
Das allmähliche Auseinanderleben der Partner rückt schleichend in den Fokus – Rodin stellt schließlich fest: „Schade, ich mochte, wie kompliziert wir´s uns machten.“ Camille gerät völlig außer sich, verwüstet alles um sich herum und hält Rodin sowie den Zuschauern eine berührende Rede, in der sie die Beziehung zu Rodin und allgemein das menschliche Streben nach Glück, Liebe und Anerkennung anspricht:“ Rodin durchbricht schließlich den Monolog durch stures Dazwischenreden – beide parlieren an einander vorbei; Camille resigniert schließlich, Rodin lässt sie fallen.
Durch vereinzelte Aussagen erfährt der Zuschauer schließlich, was bereits zu Beginn der Aufführung angekündigt wurde: Camille Claudel wird des Wahnsinns bezichtigt, in die psychiatrische Anstalt eingewiesen und verlebt dort ihre letzten 30 Jahre. Rodin heiratet seine langjährige Lebensgefährtin Rose (die für Camille immer wieder ein Objekt der Eifersucht war); Camille überweist er immer wieder Geldsummen.

Das Stück endet mit einer erneut emotionsgeladenen Ansprache Camilles an Rodin, von dessen Tod sie kurz zuvor erfahren hat. Sie betont: „Wir waren gleich. Wir wollten dunklere Mauern, härtere Körper, massivere Küsse.“ Anschließend versucht sie, nun allein im Raum, diesen zu verlassen – an der Tür rüttelt sie jedoch vergeblich. Das Licht geht aus.
Das Theaterstück entlässt sein Publikum sichtlich nachdenklich und überrumpelt. Es ist keine Inszenierung, auf die man sich in irgendeiner Weise einstellen oder einstimmen kann – selbst wem die Geschichte von Camille Claudel und Auguste Rodin aus der Literatur bekannt ist, wird in der Inszenierung Facetten entdecken, die die Theorie lebendig machen und jeden in irgendeiner Form persönlich ansprechen. Insbesondere die Person der Camille Claudel berührt mit ihrer kindlichen Naivität und ihrem Enthusiasmus, die sich allmählich in Nachdenklichkeit, Frustration und ein zu Beginn nicht erwartetes Resignieren wandeln. Als Zuschauer nimmt man die starken Differenzen wahr, die zwischen den ungleichen Liebenden von Anfang an bestehen: Camilles Kindlichkeit steht der Lebenserfahrenheit Rodins gegenüber, Intuition und Impulsivität der Überlegenheit, Direktheit und Konkretisierung, der Abstraktion und Metaphorik. Es ist ein ständiges Auf und Ab, der Zuschauer wagt kaum, sich mit dem Frieden anzufreunden, da die nächste Spannung bereits in der Luft liegt, der nächste Konflikt vorprogrammiert ist – zu verschieden sind die Gemüter der beiden Protagonisten. Wenn Camille leidet, leidet der Zuschauer, wenn Rodin zurechtweist, wird der Zuschauer zurechtgewiesen.
Möglich gemacht wird diese Gefühlserfahrung durch eine bemerkenswerte darstellerische Leistung der Schauspieler, die mit schlichten Mitteln eine absolut authentische Stimmung erzeugen. Ein bewegender Abend – wer sich auf eine emotionale Reise einlassen möchte und vor allem kann, dem sei das Stück hiermit ans Herz gelegt.
Antonia Schwingen