„Ich brauche Raum, Fläche, ich habe Hunger!“

(Vorschaubild (c) Thilo Beu)

Das Bonner Schauspiel erzählt von europäischen Schreckenstaten in „Herz der Finsternis“

Ein großes Boot ist auf der Bühne der Beueler Schauspielhalle aufgebaut, davor steht ein Tisch, an dem drei Männer in Blumenhemden mit qualmenden Zigaretten die Zuschauer am Abend des 12. Mai zu Jan-Christoph Gockels Theaterprojekt „Herz der Finsternis“ erwarten. Nach dem gleichnamigen Buch von Joseph Conrad will der Regisseur hinterfragen, „wie sehr das »Böse« als Spaltprodukt des Gutgemeinten auch heute noch gilt“. Auf einem Klavier werden seichte Töne angespielt – der Abend kann beginnen.

Joseph Conrads Werk

Der ehemalige Seemann Charlie Marlow erzählt in einer Rahmenhandlung von einer Reise, die er als Höhepunkt seiner Erfahrungen betrachtet. Seit der Kongokonferenz von 1885 geht der Kongo in Afrika als Privatbesitz an Belgiens König Leopold II. über. Angetrieben von seiner Gier nach Elfenbein beutet dieser das Land und die Einheimischen erbarmungslos aus. Einer der erfolgreichsten Agenten des Königs ist in Conrads Werk Herr Kurtz, der in seinem Gebiet im Kongo die reichsten Erträge liefert. Da dieser sich in letzter Zeit rar gemacht hat, wird Marlow auf die Suche nach besagtem Agenten nach Afrika geschickt. Für ihn beginnt eine Reise in einen für ihn unverständlichen Kontinent, in der er an der Mündung des Kongoflusses einen Flussdampfer übernehmen soll. Dafür reist er entlang der Küste des Gewässers auf einem rostigen Schiff. Bei seiner Ankunft an der Mündung erhält der Seemann nicht nur erste Eindrücke von den schlechten Zuständen der einheimischen Bevölkerung, sondern erfährt auch, dass der Flussdampfer, den er übernehmen soll, mehrere Reparaturen braucht, um wieder seetüchtig zu sein. Zudem hört Marlow zum ersten Mal näheres über Kurtz, über den die wildesten Gerüchte und ehrfürchtigsten Bekundungen kursieren. Er wird immer neugieriger, den Agenten endlich zu treffen. Nach zwei Monaten beschwerlicher Reise erreicht Marlow die Station von Kurtz. Dieser soll sehr krank oder gar schon gestorben sein. Die große Faszination Charlie Marlows verblasst während seines Aufenthalts in der Station immer mehr, da die Machtgier, Skrupellosigkeit und Menschenverachtung des Agenten immer deutlicher wird. Die Gerüchte über Kurtz’Krankheit bewahrheiten sich. Er wird mit einer Trage zu einem Boot gebracht. Der Agent wehrt sich mit aller Kraft gegen das Verlassen der Station und stirbt schließlich. Zurück in Europa begegnet Marlow der Ehefrau des verstorbenen Kurtz. Ihr sagt er, seine letzten Worte seien ihr Name gewesen. Er lügt sie damit an: In Wahrheit gab der Agent das von sich, was er in seinem Wirken auf Afrika verbreitet hatte: „Das Grauen!“

Kolonialismus in der Beueler Schauspielhalle

(c) Thilo Beu
(c) Thilo Beu

Charlie Marlows Reise und Erfahrungen kleidet Jan-Christoph Gockel gekonnt in ein Wechselbad aus Sinneseindrücken und Emotionen. So beeindruckt schon ganz zu Anfang die Darstellung der Kongokonferenz. Der Schauspieler Alois Reinhardt, einer der drei „Blumenhemden“, verkleidet sich plakativ als König Leopold II. Komi Togbonou, der einzig dunkelhäutige Schauspieler der Truppe, bringt einen großen Kuchen in Form von Afrika zu Tisch. Nun beginnt ein Streit zwischen den Schauspielern Alois Reinhard, Benjamin Grüter und Hajo Tuschy, die allesamt europäische Nationen darstellen. England und Frankreich greifen sich gierig große Teile des Afrika-Kuchens. Doch wer bekommt den schönen weißen Fleck in der Mitte des Kuchens? Leopold II., König von Belgien, nimmt ihn sich und die Schauspielerin Laura Sundermann, alias Bismark, hat wie auf einem Kindergeburtstag alle Hände voll zu tun, die heulenden anderen Nationen zu trösten. Doch Trost ist schnell gefunden: Leopold verspricht eine Freihandelszone – Afrika-Kuchen für alle – und verteilt Stücke im Publikum.

Das Wasser kommt!

Grüne Folien werden über den Bühnenboden gezogen, die von unten mit großen Ventilatoren bepustet werden, sodass sie Wellen schlagen. Alle Schauspieler springen auf das Boot, die „Roi des Belges“-Musik ertönt, die Schauspieler entkleiden sich, springen ins inszenierte Wasser, stellen sich auf Surfbretter. Mit dieser ausgelassenen Stimmung beginnt die Reise Charlie Marlows. Aber auch die einsamen, nachdenklichen Momente auf der Reise in das Herz der Finsternis werden dargestellt: Das Licht wird gedimmt, die Schauspieler reden nicht mehr und Komi Togbonou ahmt live auf einem Sound-Look Dschungelgeräusche nach. Auch Joseph Conrad findet Eingang in diese nachdenkliche Szene, indem aus seinem Buch zitiert wird:

Schwarze Gestalten hockten, lagen, saßen zwischen den Bäumen, lehnten sich gegen die Stämme, krümmten sich am Boden, von dem trüben Licht kenntlich und unsichtbar gemacht, in allen Stellungen des Schmerzes, der Verlassenheit und der Verzweiflung.“

Das Zitat stellt die Ankunft Marlows in der Station an der Mündung des Kongos dar. Sie wird besonders dadurch eindrücklich, dass sich Togbonou als Leiche eines Eingeborenen ins Wasser legt. Zuerst denkt man, Marlow ist zutiefst geschockt von dieser Erfahrung, doch dieses Gefühl verfliegt im nächsten Moment: Afrikanische fröhliche Musik ertönt, alle beginnen zu tanzen und rufen: „Welcome to Africa!“.

Die Reparaturen am Boot, das Marlow übernehmen soll, leiten die Pause ein. Im Buch muss Marlow drei Monate warten, die Zuschauer nur eine Viertelstunde.

Europäische Schreckenstaten

Während der erste Teil des Stücks sich auf die Reise Marlows fokussiert, bringt der zweite Teil den Zuschauer mit geschmacklosen Szenen, in denen sich Europäer den „wilden“ Eingeborenen überlegen darstellen, mehr und mehr zum Grübeln. Komi Togbonou hat sein Gesicht weiß bemalt und trägt die Uniform eines belgischen Kolonialherren. Er weist seine drei Schauspieler-Kollegen, die mit skurrilen Kostümen die Eingeborenen darstellen, wie ein Kindergärtner zurecht: „Alois, nicht an dem Gemächt rumfummeln! Hajo, nicht immer tanzen!“ Dann führt er sie in die europäische Kultur ein: Er gibt ihnen Alkohol, um sie ruhig zu stellen, zwingt sie, zum christlichen Gott zu beten und gibt ihnen Waffen.

Ein Dialog gibt zu bedenken: Die Welt, die Menschheit braucht Menschen wie Herrn Kurtz, das personifizierte Böse und Grauen. Solche Menschen sind die notwendige Bedingung für die Existenz, sie machen, was man machen muss, damit ein System funktioniert. Gleich macht das Stück deutlich,

(c) Thilo Beu
(c) Thilo Beu

dass mit dem System die Ausbeutung Afrikas gemeint ist. Togbonou beginnt zu rappen: „Mehr, mehr, wir brauchen MEHR!“ Ein überdimensionaler Stoßzahn eines Elefanten wird hereingetragen und an Laura Sundermann weitergegeben. Als personifiziertes Europa schmiegt sie sich an das Elfenbein und ahmt einen stöhnt, sodass es wie ein Orgasmus klingt.

Das Publikum wird auch weiterhin mit europäischen Schreckenstaten konfrontiert: Ausschnitte aus DEFA-Dokumentarfilmen werden auf das Boot projiziert, in denen Söldner wie der Altnazi „Kongo-Müller“ von den Machenschaften im Kongo erzählen. Manche „Wilden“ würden zu Tode geschleift werden, manche verstümmelt. Dörfer würden abgefackelt und „Schwarze“ gehäutet, „damit sie weiß sind!“ All das setzt Gockel in Bezug zu Bonn, indem er in seinem Stück das Goethe-Institut erwähnt, in welchem solche Kolonialherren wie Kongo-Müller ein- und ausgingen.

Kurtz ist ebenfalls ein Agent, der über Leichen geht. Dies findet Charlie Marlow schnell heraus, als er all die Totenköpfe von Eingeborenen erblickt, die Kurtz „wie Briefmarken sammelt“.

„Hunger, Hunger, ich habe Hunger! Mehr, mehr, mehr!“ Unter diesem Motto steht die Begegnung Marlows mit Kurtz auf der Beueler Bühne. Auch König Leopold meldet sich mit den gleichen Worten noch einmal beim Publikum. Marlow verzweifelt über diese Umstände und beschließt, anders als im Buch, Kurtz zu erschießen.

Der Agent ist nun tot. Togbonou schaut aus dem Fenster der Kajüte und das Boot beginnt, Richtung Publikum zu kippen. Die Requisiten fallen vom Boot, ein großes Chaos mit viel Lärm beginnt. Schließlich hört das Boot auf zu sinken. Hiermit stellt Gockel einen Bezug zu den kenternden Flüchtlingsbooten her, auf denen schon tausende Menschen ihr Leben verloren haben. Der Schauspieler guckt mahnend ins Publikum und warnt: „Die Welt wird noch finsterer.“

Sofia Grillo

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