(Vorschaubild (c) Marie Fleur Borger)
Willkommen bei Alice im Woyzeckland! – Ein Überlebensguide für das Kunstcamp 2016
Hey du da! – Ja, genau du da, der Theater vielleicht immer schon ganz cool fand, sich aber noch nie getraut hat, sich solch ein Irrenhaus einmal aus nächster Nähe anzuschauen – du fändest zwei Wochen volle Theaterpower in den Ferien zwar ganz lustig, hast aber keine Ahnung, wie so etwas abläuft, was man da macht, tut, spielt, singt und darstellen soll? Dann aufgepasst: Nun folgt eine Simulation der diesjährigen Osterferien, inklusive Tipps und Kniffe, um nicht direkt den Kopf zu verlieren.
Bevor du dich also als Alice der blutrünstigen Herzkönigin, die darauf wartet ein weiteres Mal „Ab mit ihrem Kopf“ zu brüllen, und dem Jabberwocky am sagenumwogenen Tag der Premiere stellen wirst, wird unter anderem Mut, Courage und Ehre von dir erwartet, damit auch du letztlich auf die Frage „Wer bin ich?“ antworten kannst. Die Frage, ob das Theater auf Dauer ein Ort ist, an den du dich gewöhnen kannst oder von welchem du ganz schnell wieder fliehen möchtest.

Aber ganz on Anfang an (am Besten machst du jetzt die Augen zu und lässt dir den folgenden, natürlich durch und durch pädagogisch wertvollen, aber ehrlichen Kurzroman von jemandem vorlesen). Auf die Plätze, fertig? Los!
Du wirst an einem bis dahin wunderbaren Ferientag zu einer für dich ebenfalls bis dahin nachtschlafenden Uhrzeit wie aus heiterem Himmel geweckt werden. Versuche, sämtliche Menschen, die dir auf dem Weg zur Schauspielhalle Beuel begegnen, nicht allzu böse anzuschauen – die können auch nichts dafür, dass du meintest, dir bis tief in die Nacht Serien reinziehen zu müssen.
Du wirst der verlockenden Einladung eines seltsamen weißen Kaninchens, nennen wir es einfach Angela Merl ( künstlerische Leiterin) folgen und durch ein dreckiges und dunkles Erdloch fallen, bis du im Foyer landest. Dort angekommen wird dich, wie jeden Morgen, ein breit gefächertes Beschäftigungsangebot erwarten. Von Salsa lernen bis einfach koplett sinnfrei YMCA gröhlen und dabei mit einem Fußball durch die Gegend laufen – alles wird dabei sein. Vielleicht suchst du dir erstmal die Tätigkeit aus, bei der du dir am wenigsten verrückt vorkommst – doch das wird sich schon sehr bald ändern.
Ich hoffe, du hast DEN Zeit nicht schon totgeschlagen und dich mit ihm möglichst gut gestellt, denn gegen Punkt kurz nach halb 11 wirst du mit einigen weiteren Menschen, welche genauso nervös und neugierig sind wie du, zusammen Richtung Halle B spazieren, um deinem Peinlichkeitsgefühl beim Warm-up schon einmal so richtig auf die Sprünge zu helfen und dich bei diversen lustigen Aufwärmübungen vorsorglich zum Affen zu machen. Das wird noch besser funktionieren, wenn du z.B. beim Kettenfangen direkt in die nächstgelegene Person hineinläufst, oder aber dich vor versammelter Mannschaft eine Runde auf die Nase legst. In diesem Fall wird das auch komplett ohne Issmich–Kuchen und Trink-mich–Brühe möglich sein, denn das wäre ja viel zu einfach.

Während die dezent amüsierten Gesichter der Betreuer,Coaches und weiteren Helfern (Katia Köhler, Katja Koch, Katharina Landsberg etc.) auf der Tribühne das Geschehenverfolgen, wirst du, wo wir schon gerade beim Thema Muskelkater sind, über ein herrlich, warmes, abendliches Bad nachdenken. Von wegen Tanzen ist kein Sport! Hast du diese erste Hürde gemeistert, wird es mit dem eigentlichen Chaos in den einzelnen, vorher gewählten, Workshops erst so richtig zur Sache gehen.
Mit dem oben benannten, weißen Kaninchen, führst du das ebenfalls oben genannte „zum Affen machen“ schonungs- und erbarmungslos mit diversen, durchaus interessanten Mimik- und Gestikübungen im Schauspielworkshop fort. Dort wirst du zur collagenartigen Abschlussaufführung die textlichen Antworten auf viele Fragen, wie beispielsweise jene gefürchtet schwierig- einfachen seitens Absolems beisteuern. Zu tiefgründig? Parallel dazu laufen die Auditions zu: „Das Wunderland sucht den Superstar“, unter Anleitung von Valerij Lisac. Du wirst dich wundern, mit was man alles Töne verursachen kann, um für eine angemessene Wunderlandatmosphäre zu sorgen. Die neueste Wunderlandcouture wird mithilfe von Grietje Hansen im Workshop der darstellenden Kunst kreiert. Fühle dich phantastisch, fühle dich toll und stoße einen legendären Siegesschrei aus, wenn du es geschafft hast, auf deinen selbstgebastelten Stelzen von Stuhl zu Stuhl zu balancieren. Einfach hinein ins Abenteuer! Wo wir gerade von Abenteuer sprechen: Schon den letzten Hollywoodactionfilm mit dem Schauspieler des Hutmachers gesehen? Eine selbstgedrehte Hasenjagd wird dir weitaus besser gefallen, glaub mir, und sorgt dank Marc Mahn für die schrägen Lacher der Präsentation. Auch nicht, nein? Dann lerne doch einfach den nicht vorhandenen, traditionellen Wunderlandtanz von Sonia Franken und entpuppe dich als Leibwächter der Herzkönigin! Ein unbegrenztes Jobangebot mit ständiger unabdingbarer Nachfrage.
Das ganze Geschehen wird sich in diesem Falle sogar als noch lustiger herausstellen, denn an dieser Stelle sei erwähnt, dass ungefähr ein Drittel aller Workshopteilnehmer (insgesamt sind es ungefähr 60) erst seit knapp drei Monaten in Deutschland heimisch sind. Klar, Verständigungsprobleme werden zunächst an der Tagesordung sein und ja, kompliziert und chaotisch wird es somit dadurch auch werden. Eine kunterbunte Teeparty eben, mit vielen verschiedenen, leckeren Tee- und Kuchensorten, mit Kartenspielen ohne Spielkarten und garantiert wie Versteckspielen ohne Verstecke. Sei offen, sei mutig und erzähle ganz, ganz viel Quatsch!

Fakt ist: Ja, du wirst jeden Abend todmüde ins Bett fallen. Du wirst dich groß und klein fühlen, schwach und stark, besonders und nicht so besonders. Deine Lachmuskeln werden bestens trainiert sein und mehr als oft wird es auch emotinal zugehen. Gerade in diesen leisen Momenten wirst du dich und alles andere komplett in Frage stellen. Vielleicht wirst du auch deine Liebe und deine Leidenschaft zum Theater entdecken und dich nicht zuletzt während deiner ganzen Reise durch das Wunderland persöhnlich weiterbilden. Du wirst viele neue Freunde finden, welche genau den gleichen Knall haben wie du und ebenfalls ein festes Glied der Händekette des Toi-Toi-Toi-Kreises kurz vor der Vorstellung sein werden. Denn letztendlich werdet ihr alle das Schwert in der Hand halten und gemeinsam den Jabberwocky und euer Lampenfieber besiegen.
Dies wird dann ausgelassen und fröhlich gefeiert, du wirst dich fragen, wovor du zu Beginn dieser Zeit eigentlich Angst hattest. Deine Eltern, deine Vernunft und dein Schamgefühl werden dann vor dem kleinen Kaninchenloch in einem Auto auf dich warten, um dich aus den schönen Illusionen der letzten zwei Wochen herauszuholen, welche „Zu spät, zu spät“ dir dann nur noch wie das leise Ticken des Sekundenzeigers einer Taschenuhr vorzukommen, welche schließlich irgendwann in den Erinnerungen hinter dir verblassen wird. Doch du wirst dann wissen, dass du an sechs unmögliche Dinge glauben kannst, bevor dich die Normalität überhaupt noch morgens vor dem Frühstück einholen kann.
Kim Sterzel