„Die Hemden haben einen Wert, wir nicht. Uns fehlt das Etikett: Made in Italy“ Mit solch ergreifenden Zitaten aus dem Stück PARADIES SPIELEN.ABENDLAND (EIN ABGESANG) könnte man viele Seiten füllen. Das Stück ist ein Teil der Klimatrilogie von Thomas Köck und wurde 2018 mit dem Mühlheimer Dramatikpreis ausgezeichnet. Es beschäftigt sich mit tiefgreifenden Fragen über die Sinnhaftigkeit und der Existenz der Menschen. Köck bringt die Absurdität des menschlichen Handelns in unserer modernen, kapitalistischen Welt auf den Punkt. Rebekka Krichelhof sagte einmal passend: „wofür es früher vier Stücke brauchte, braucht es heute nur noch einen Köck“.
Die Theatergruppe „Theater Rampös“ wagte sich, unter der Regie von Markus Weber, an dieses sehr anspruchsvolle Stück und brachte am 23. November Köcks Ideen wirkungsvoll auf die Bühne der Brotfabrik in Beuel.
Die Inszenierung
Das Stück spielt auf vier Ebenen bzw. hat vier Handlungsstränge, die erst für sich stehen und sich dann immer weiter miteinander verknüpfen.
Die erste Ebene bzw. eine der Erzählungen findet auf dem Boden vor der eigentlichen Bühne statt. Braune Erde, deren Geruch man in den vorderen Rängen sogar wahrnehmen konnte, bildet den Untergrund für das Schicksal eines Schneiderpaares (Mascha Rauschenbach und Fabio Sorgini) aus China. Diese arbeiten in einer Textilfabrik in einer chinesischen Provinz, bis sie eines Tages beschließen, ihrem Leben eine Wende zu geben. Mit dem Zug fahren sie durch Russland und Europa bis nach Italien; ihrer Hoffnung auf ein neues Leben ohne Smog und Ausbeutung entgegen. Doch in Italien angekommen, stellen sie fest, dass dort nicht die ersehnte Freiheit wartet, sondern die nächste Fabrik, in der sie noch billigere Kleider für die Italiener herstellen sollen – die Beziehung der beiden wird auf eine harte Probe gestellt.
Die Hauptbühne, also die nächste Ebene, teilen sich mehrere Figuren: zwei Parzen (Schicksalsgöttinnen – Johanna Scharfenberg und Alexandra Köngeter) in weißen Fechtanzügen und die Kondukteurin (Schaffnerin – Andrea Bühring). Die zwei Parzen stammen aus einem anderen Teil der Klimatriologie von Köck. Sie weisen in die Zukunft der Erde und damit der Menschheit. Sie erklären haargenau, wie ausweglos die Situation ist: Die Sonne wird unweigerlich die Erde zerstören. Ihnen ist das beinahe egal, denn sie werden als Göttinnen die Katastrophe überleben und damit die letzten „Menschen“ sein… Die Schaffnerin ist eine seltsame Figur – mit einem Gesicht, das an die Tänzerinnen der 20er Jahre oder an den Joker aus Batman erinnert, ist sie belustigend und gruselig zugleich. Sie ist es auch, die den Passagieren des ICE Mitteleuropas klarmacht, auf was für einem Himmelfahrtkommando sie sich befinden.
Die Passagiere des ICE Mitteleuropa bilden dann auch die nächste Ebene: Ein kleines Podest auf der eigentlichen Bühne stellt zuerst den Bahnsteig und später den ICE dar, in dem die Passagiere Fred (Michael Nann) mit seiner Frau Doris (Jacqueline Gross), Sonja (Anne Nickel) ihrem Freund Martin (Adrian Denner) und Marianne (Kerstin Gröger) fahren. Sie haben alle ein und denselben Bahnhof als Ziel, kümmern sich aber wenig um die anderen Mitreisenden. Obwohl sie richtig bemerken, dass man mit bestimmten Menschen außerhalb des Bahnverkehrs wohl sonst nie in Kontakt kommen würde, interessieren sie sich nicht füreinander. Die Situation ändert sich schlagartig, als ihr Zug nicht am geplanten Bahnhof hält, auch nicht am nächsten oder übernächsten – ihr Zug fährt in voller Geschwindigkeit einfach immer weiter. Ziel unbekannt. Die Ruhe weicht der Panik – wie kann man einen ICE anhalten? Haben sie es gar mit einem suizidalen Lokführer zu tun?
Die Zugreisenden verkörpern mit Witz und grotesken Dialogen die moderne Ego-Gesellschaft, die trotz der immer erschreckenderen Geschwindigkeit des Zuges, nur mit sich und ihren nichtigen zwischenmenschlichen Konflikten beschäftigt sind.
Der unaufhaltsame Zug kann als Metapher für den immer rasender voranschreitenden Klimawandel und den entarteten Kapitalismus, besonders in Mitteleuropa, verstanden werden. Die unterhaltsamen Szenen zeigen auf einfache, aber kreative Weise, wie handlungsunfähig der Mensch in unserer Gesellschaft ist und wie hoffnungslos der Zug Europas ohne echtes Ziel in sein Verderben fährt.
Die Kostüme, die von Andrea Bühring, Heidemarie Bühring, Adrian Denner und Sarah Steinkamp entworfen wurden, spiegeln verschiedene Einkommens- und Bildungsschichten wider. Sie unterstreichen damit die Abgehobenheit und Realitätsfremdheit der Charaktere.
Die vierte Ebene besteht nur aus einer einzelnen Figur, die im Programmheft „Poetin“ (Barbara Wegener) genannt wird. Sie gehört, wie die Parzen, eigentlich nicht in dieses Stück, sondern ist einem anderen Werk von Köck entliehen. In ihr fließt die Figur eines jungen Mannes ein, der auf einer Intensivstation um das Leben seines Vaters bangt, der sich aus politischem Protest selbst angezündet hat. Die Poetin hängt, steht oder klettert immerzu an einer Pole Dance-Stange – sie schwebt sozusagen zwischen den Ebenen, wodurch ihre kurzen Monologe auf eine „Metaebene“ gehoben werden. All diese Informationen konnte man dem Programmheft, das zugleich der Reisepass für das Publikum war, entnehmen.

Mein Eindruck
Die Darstellung von Mascha Rauschenbach und Fabio Sorgini, die das chinesische Schneiderpaar spielten, besonders in der emotionalen Verarbeitung des Textes als auch die das Schicksal untermalenden Gesten, haben mich beeindruckt. Die Leidenschaft für einander und die Vorfreude der beiden auf ein vermeintlich neues Leben waren aufwühlend und berührend. Die Parzen haben die Zuschauer mit ihrer energiegeladenen Art und kreativen Darstellung in den Bann gezogen. Andrea Bühring als Schaffnerin hat mit ihren realistischen Bahnansagen, die mit ironischem und sarkastischem Witz, aber auch Stellen zum Nachdenken gespickt waren, eine große Unterhaltung geboten. Obwohl diese gegen Ende des Stücks schon ins Makabre ging. Und auch das Zusammenspiel der Zugreisenden konnte im Publikum nur für Schmunzeln, Lacher, aber auch Besorgnis sorgen, da sie den richtigen Ton in ihren konfliktreichen Dialogen trafen und auch das passende Gespür in choreographischen Elementen zeigten.
Insgesamt überzeugte die Inszenierung des Stückes PARADIES SPIELEN durch ihre gut gelungene Mischung aus apokalyptischen Monologen, flachen Witzen und Stellen die zum Nach- und Weiterdenken anregten. Auch noch Tage später denke ich über viele Details nach und mir fallen immer wieder neue bedeutungsvolle Details auf. Das Konzept der vielen und neuen Ebenen hat das Stück und seinen Text noch dichter gemacht. Die humorvollen Passagen verhinderten eine bei dem Thema schnell aufkommende Schwere. Man merkte den Schauspielern, dem Regisseur und dem Team die Begeisterung und Leidenschaft für die Thematik und das Stück an. Auch das Publikum wurde von dieser Begeisterung angesteckt, wie man an dem lauten und überschwänglichen Applaus am Ende der Aufführung sehen und hören konnte.
Das Stück war noch an drei weiteren Abenden zu sehen. Ich gehe davon aus, dass alle Abende ein glückliches und nachdenkliches Publikum zurückgelassen haben.
Anuscha Enders
Über das Theater Rampös
Das Bonner Theater Rampös existiert seit Anfang 2016. Den Schwerpunkt setzen sie auf die Inszenierung von Texten des 20. Jahrhunderts und der Gegenwartsdramatik, die sie i.d.R. auf Bühnen des Bonner und Kölner Raums präsentieren, v.a. auf der Brotfabrik Bühne Bonn, ihrem zweiten Wohnzimmer.
Jede neue Produktion (ca. halbjährig) wird von einem offenen Casting eingeleitet, bei welchem wir regelmäßig neue Kreative mit und ohne Erfahrung aufnehmen. (Text, leicht abgewandelt von der Website: https://webergps.wixsite.com/rampoes/blank – hier findet ihr auch weitere Informationen zu den nächsten Projekten und Terminen.)