Storms Schimmelreiter schreckt Schüler:innen nicht!

Regisseur Dominic Friedel kann mit 18 Schüler:innen und drei Schauspieler:innen am 21.05.2022 Premiere im Schauspielhaus feiern und erntet tosenden Beifall für eine beeindruckende Leistung.

Kaum betritt man den Theatersaal, donnert es bereits bedrohlich. Regen rauscht leise an den Ohren vorbei. Ein Sturm ist in vollem Gang. Steile Felsen, unbezwinglich und doch verführerisch in allen Farben des Meeres schimmernd, erheben sich vor den Augen des Publikums (Bühne: Julian Marbach). Die kühle Nässe der Nordsee kriecht schon beim Hinsehen in die Knochen. So eingestimmt, war man gleich im Setting des SCHIMMELREITERS von Theodor Storm angekommen.


Die Novelle nach Storm

Die Geschichte handelt von Hauke Haien, einem eher mittellosen jungen Mann, der sich jedoch vornimmt, eines Tages der Deichgraf seiner Ortschaft zu werden. Da er viele Talente besitzt (unter anderem Rechnen) sieht er für sich gute Chancen. Aber erst einmal heuert er als Kleinknecht beim alten Deichgrafen an. Ein Deichgraf ist der Vorsteher einer Dorfgemeinschaft. Derjenige wird Deichgraf, der das meiste Land besitzt, außerdem ist der Titel vererbbar. Haukes Fähigkeiten werden bald vom alten Deichgrafen bemerkt, besonders jedoch von dessen Tochter Elke, deren heller Verstand und gutes Herz bei Hauke mächtig Eindruck machen. Doch Hauke hat auch dunkle Seiten. So tötet er im Affekt den Angorakater einer alten Witwe namens Trien, die für ihre wilden Märchen bekannt ist und an dem Kater hängt, weil ihr verstorbener Sohn ihr diesen von einer Reise als Rattenfänger und Fußwärmer mitgebracht hatte. Doch Hauke zeigt sich kaum reuig.

Was hat es bloß mit dem Gerippe auf sich? (c) Thilo Beu.

Als Elke nach dem Tod ihres Vaters verkündet, dass sie Hauke heiraten und er dadurch zum neuen Deichgrafen wird, sind die Dorfbewohner:innen nur mäßig begeistert. Obwohl sie um Haukes Intelligenz wissen. Sie werfen ihm allerdings vor, nur Deichgraf geworden zu sein, weil Elke ihm das Vermögen dafür in die Hand gegeben hat. Angestachelt von diesen Vorhaltungen, will sich Hauke beweisen und plant, einen neuen Deich zu bauen, der allen Deichbewohner:innen zum Vorteil dienen soll. Der Name des neuen Deiches soll dann „Hauke-Haien-Koog“ lauten, damit sein Name ewig erhalten  bleibt. Gerade dieser doppelte Schachzug verrät Haukes zwar einerseits gemeinnützige, auf der anderen Seite aber auch egoistischen Gedanken hinter dem Deichprojekt. Als es dann nach vielen Widerständen endlich losgehen kann, nimmt Hauke kaum Rücksicht auf die Arbeiter:innen und auch nicht auf die Natur, obwohl beide ihn vor den Gefahren seines Unternehmens warnen – Letztere durch mehrere Plagen. Das letzte böse Omen zeichnet sich ab, als Hauke auch noch einen klapprigen Schimmel einem dubiosen Kerl abkauft. Dessen Hand soll wie Klauen ausgesehen haben. Hat Hauke etwa Geschäfte mit dem Teufel persönlich gemacht und wenn ja, zu welchem Preis? Die Angst geht doppelt um, als zwei Dorfbewohner feststellen müssen, dass ein bleiches Pferdeskelett, das um Mitternacht auf einer verlassenen Hallig stets über den Strand ritt, just an dem Tag verschwindet, als Hauke mit dem Schimmel ankam. Alles Einbildung? Zufall? Böse Nachrede? Hauke glaubt nicht an Ammenmärchen und lässt sich nicht beirren.

Die Arbeiten laufen nur schleppend voran. Schließlich begeht Hauke einen bösen Fehler und dann zieht ein Sturm auf, der die Entscheidung über Haukes Deichprojekt und das Schicksal des gesamten Dorfes fällen soll…

Der Theaterabend beginnt

Der Abend beginnt wie die Novelle endet – ein Sturm tobt. Da regt sich etwas auf der Bühne. In Regenmänteln gehüllt, dicht aneinandergedrängt, kämpfen sich 18 junge Schauspieler:innen auf die Bühne. Die grünen Gummistiefel an ihren Füßen, schützen sie zwar vor dem aufspritzenden Wasserfluten, aber nicht vor den glitschigen Felsen, auf denen prompt einer ausrutscht und gerade noch so von seinen Mitspieler*innen vor dem tödlichen Sturz ins Meer bewahrt wird. Sie sind eine Gemeinschaft, ein Team. In diesem sind auch vier Jugendliche mit Behinderung, die aber genauso Teil der Gemeinschaft sind, wie die drei Ensemble-Schauspieler:innen Annika Schiller, David Hugo Schmitz und Christian Czeremnych. Sie alle sind Dorfbewohner:innen eines Deiches irgendwo an der Nordsee, die mit den Naturgewalten kämpfen. Als das Unwetter endlich etwas nachlässt, sprechen sie über eine merkwürdige Erscheinung, die sie gehabt haben. Über eine Geistererscheinung – den Schimmelreiter, dessen Name Hauke Haien gewesen sein soll.

DER SCHIMMELREITER – Die Dorfbewohner rücken zusammen angesichts des Sturms. (c) Thilo Beu.

Wie schwer es fällt, über Hauke ein Urteil zu fällen, wird lauthals in einer wilden Diskussion zwischen den Dorfbewohner:innen kundgetan. Ist Hauke ein Visionär? Ein gewissenloser Tierquäler? Ein treuer Ehemann und Vater? Hat er sich dem Teufel verschrieben? Ist er klug oder hochmütig? Ist Hauke Haien ein guter oder ein schlechter Mensch? Gerade diese Frage lässt sich nicht einfach beantworten, denn gerade durch die vielen Seiten seiner Persönlichkeit fühlt man sich zugleich von ihm abgestoßen und hingezogen.

Dass das Stück zwischen zwei Welten spielt – der unseren und der Storms –, wird immer wieder in den Details deutlich. So sind die Kostüme (Maria Strauch) der Kinder und Jugendlichen schief zusammengenäht, muten mit Spitze versetzt wie aus dem vorletzten Jahrhundert an, in ihrer Farbgebung aber zu neu. Auch die bereits erwähnten Felsen könnten bei anderem Licht betrachtet auch verwitterte Stahlplatten sein, die in den grauen Himmel ragen – ein Blick in unsere trübe Zukunft, wenn wir uns nicht endlich von unserer egoistischen Lebensweise verabschieden und anfangen so zu leben, dass auch die Natur darin ihren Platz findet?

Das Regieteam

Der Schwierigkeitsgrad ein Stück mit einer so bunt gemischten Gruppe auf die Beine zu stellen, ohne dass jemand dabei zu kurz kommt, lag sehr hoch. Doch die Truppe lag in sehr guten Händen, denn Regisseur Dominic Friedel und die Theaterpädagogische Leiterin Susanne Röskens sowie die Dramaturgin Nadja Groß haben gezeigt, dass sie ein aufrichtiges Interesse an den Kindern und Jugendlichen haben. Sie wussten, wie sie ihre Stärken nutzen und hervorheben können. Aber wie macht man das mit einem so großen Ensemble, wenn doch die Geschichte selbst gar nicht unbedingt so viele Rollen hergibt? Ganz einfach, jeder ist einmal Hauke Haien oder mal Elke, doch vor allem gibt es auch immer wieder Momente zwischen einzelnen Szenen, wo die jungen Schauspieler*innen selbst zu Wort kommen, sich mit ihren eigenen Ängsten über die Zukunft des Planeten in manchmal prosaisch anmutenden Texten an das Publikum wenden.

Inklusion funktioniert

Das Mitwirken von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung ist zutiefst einleuchtend, da Haukes Tochter Wienke ebenfalls eine geistige Beeinträchtigung hat. Allerdings wird dieser Punkt in der Inszenierung nicht erwähnt. Aber auch wenn Wienke, Zitat aus Storms Novelle „schwachsinnig“ ist, entwickelt sie ein wesentlich feineres Gespür für die drohenden Naturereignisse, die während des von Hauke durchgesetzten neuen Deichbauprojektes mit einer unausweichlichen Gewissheit auf die kleine Familie zukommt. Ihre Behinderung hindert übrigens Wienkes Eltern nicht daran, ihr Kind genau so sehr zu lieben, wie sie sich lieben. Diese innige, tiefe und ehrliche Liebe wird von zwei Jugendlichen mit Down-Syndrom so reizend und natürlich in Szene gesetzt, dass man als Zuschauer den beiden fast schon ein „Lebt lang und glücklich!“ zurufen wollte.

Fühlen sich gleich zueinander hingezogen: Elke und Hauke. (c) Thilo Beu.

Davon abgesehen war es ein wahres Vergnügen zu sehen, wie die verschiedenen Talente der Jugendlichen zum Erblühen kamen. Der eine hatte eine besonders gute und durchdringende Aussprache, die andere konnte hervorragend eine Möwe imitieren; sogar Gesangseinlagen gab es, sodass alle Darsteller:innen auf vielfältigste Weise gefordert waren. Sicher wird nicht jede:r später eine Karriere als Schaupieler:in ins Auge fassen, aber hat ihre/seine Liebe zum Theater (wieder-)entdeckt, was für die Zukunft sicher nicht verkehrt sein kann.

Die Profis

Doch auch die drei „Professionellen“ sollen nicht völlig lobfrei bleiben – ohne ihre Präsenz und  ihre kleinen Hilfestellungen auf der Bühne wäre das Stück vielleicht etwas chaotischer geworden. So aber scheinen die Jüngeren während der Aufführung keine Aufregung, sondern vielmehr wahre Freude am Spiel verspürt und diese auch an das Publikum weitergegeben zu haben. Sie waren mit den Älteren vertraut und konnten sich an ihnen orientieren, wurden motiviert, alles aus sich herauszuholen. Das ist manches Mal mehr wert als selbst den großen Auftritt zu haben.

Das Publikum

Das Publikum ist selten so schnell aus ihren Sitzen gehüpft wie an diesem Abend. Und den tosenden Beifall haben sie sicher nicht nur den anwesenden Familien zu verdanken, denn die Leistung war stark. Zugegeben, es gab nach dem überschwänglichen Applaus-Sturm mit vielen Rufen und Standing Ovations auch ein paar wenige leise Stimmen, die „die erste Hälfte sehr gut, die zweite dann etwas langatmig“ fanden. Hier stimme ich  allerdings nicht zu, da selbst eine kurze Novelle, wie die des Schimmelreiters, Zeit braucht und zudem auf diese Weise eben alle Mitspielenden einen großen Moment bekamen, um die Bühne für sich zu haben. Außerdem wären sonst vielleicht Szenen weggefallen, wie die, wo Annika Schilling und eins der Kinder sich langsam im Mondschein wie im Tanz zu dem Märchen einer verirrten Meerjungfrau der alten Trien drehen (Licht: Max Karbe). Das wäre doch zu schade! Denn gerade das Erzählen scheint wesentlich zur Regieidee dazuzugehören, damit die Gebundenheit an eine Rolle aufgehoben werden kann. Alle sind Hauke und Hauke ist alle – Wienke ist alle und alle sind Wienke…


Zum Schluss

Und da es die Leistung der Jung-Spieler:innen wert ist, werden sie jetzt noch einmal alle mit Namen genannt. Es spielten also mit: Noemi Anspach, Henrik Brouwers, Jerome Clemens, Bahar Gel, Niha Hafeez, Nico Helbling, Elena Jakobi-Comtet, Valentina Klassen, Eva Leyow, Daniel Meißner, Lilli Nawar, Antonia Riet, Benjamin Spall Rojas, Nora Usseni, Krikor Vartan Vartanian, Victor von Braun, Frieda Wirkus und Odile Zilch.

Zusätzliches Material zu den Jugendlichen und der Produktion gibt es zudem noch im Foyer zu entdecken. Dort können über einen QR-Code weitere Videos von den Jung-Schauspieler:innen abgerufen werden.

Wer also plant in nächster Zeit an die Nordsee zu fahren, vielleicht sogar nach Husum, wo Storms Geburtshaus steht, dem sei diese engagierte und voller Talente steckende Inszenierung wärmstens als vorherige Pflichtschau empfohlen – und allen Deutschkursen quer durch alle Klassen natürlich ebenso! Denn wie sagte eine jüngere Theaterbesucherin nach der Vorstellung so schön: „Das war voll krass!“

Rebecca Telöken

Bühne und Kostüme verbinden verschiedene Welten – ein Blick in die Zukunft? (c) Thilo Beu.
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