Ein Erfahrungsbericht aus Bochum und London
Die diesjährige Theatersaison ist gelaufen, bevor sie richtig begonnen hatte – zumindest für das erste Halbjahr. Die meisten Theater haben bis zur neuen Spielzeit alle Aufführungen abgesagt. Natürlich herrscht deswegen kein absoluter Stillstand. Von überall kommen Ideen, wie die Zeit der Untätigkeit überbrückt werden kann und man den Menschen den Spaß am Theater nicht verdirbt. Besonders schnell wurden von vielen Theatern Aufzeichnungen vergangener Produktionen ins Internet gestellt. Wahrscheinlich haben die meisten schon einmal eine Theateraufführung im Fernsehen gesehen. Im Deutschunterricht werden gerne zu relevanten Klassikern Neuinszenierungen zur Analyse gezeigt und besprochen. Aus der eigenen Schulzeit weiß ich noch, dass das nicht immer besonders spannend war. Lag es am Medium oder an der Inszenierung?
Der Vorteil am Internet ist, dass anders als früher beim reinen Fernsehprogramm, man zumindest während eines gewissen Zeitraums das Video abrufen kann, wann man will, unterbrechen kann, wann man will und es häufiger hintereinander, langsamer oder schneller anschauen kann, wenn man will. Ich habe mich nach sehr langer Zeit nun an drei Aufzeichnungen gewagt.
Mein erster Versuch: Eine Aufzeichnung, die wahrscheinlich nur für Archivzwecke des Theaters gedacht war. Gezeigt wurde ein Shakespeare-Stück in einer modernen Interpretation. Leider war der Ton schlecht und weil es eben nicht für die Öffentlichkeit gedacht war, war auch die Kameraführung nicht besonders ansprechend. Beides zusammen führte dann doch dazu, dass mir nach einer halben Stunde schon die Lust vergangen war und ich ausgeschaltet habe. Satz mit „x“, war wohl nix.
Doch ich gab nicht auf und entdeckte das Angebot vom National Theatre in London, das seine größten Inszenierungen sowieso regelmäßig auch in europäische Kinos sendet. Meine Wahl fiel auf „Frankenstein“ von Mary Shelly mit Johnny Lee Miller als Monster und Benedict Cumberbatch als Victor Frankenstein. Das Video wurde bei Youtube an dem letzten Einstellungstag über 1,5 Millionen Mal angesehen. Wahnsinn. Hier zeigte sich auch schnell der Unterschied zum ersten „Kandidaten“. Ein Unterschied wie Tag und Nacht. Sauberer Ton – auch mit englischen Untertiteln für die nicht ganz so Sprachsicheren – , gekonnte Kameraführung, die auch in der Lage war, Perspektiven einzunehmen, die dem Publikum vor Ort sicher entgangen sind. Allerdings ist man nicht wirklich dabei. Auch wenn der Zuschauer im Saal nicht immer alles sieht, und wahrnimmt ist es trotzdem schöner, seinem „Star“ räumlich nahe zu sein, als ihn oder sie nur auf dem Bildschirm beobachten zu können. Noch etwas habe ich schnell festgestellt: Die Leistung der Schauspieler kam auch durch die Übertragung auf dem Bildschirm bei mir an. Ich merkte schnell, wer mir beim Spielen gut gefiel und wer nicht und konnte es sogar begründen, aber das tue ich jetzt nicht. Insgesamt war dieses Erlebnis mit einer aufgezeichneten Theateraufführung sehr positiv.
Mein letzter „Kandidat“ war die Hamlet-Inszenierung aus dem Schauspielhaus Bochum, die für den Preis des Theatertreffens 2020 neben „Anatomie eines Suizids (Schauspiel Bochum) und „Der Menschenfeind“ (Deutsches Theater Berlin) nominiert ist; mit Sandra Hüller in der Hauptrolle. Bis zum 30. Juli 2020 kann die Inszenierung noch in der 3Sat Mediathek angesehen werden. Auch hier gab es eine professionelle Kameraführung, der Ton war meist gut, Zuschauer gab es keine.
Die Inszenierung – dieses Detail hatte ich eben vergessen zu erwähnen – war wesentlich zeitgemäßer gewählt als bei Frankenstein, der zwar mit vielen raffinierten Bühnenbildtricks arbeitete, aber den Kostümen nach deutlich der Zeit des Romans angepasst war. Bei Hamlet ist das Stück der Zeit enthoben, zwar erinnern natürlich Titel wie „König“ und „Prinz“ an vergangene Zeiten, aber diese Titel gibt es ja durchaus noch bis heute in genug Ländern, womit es irgendwie wieder unzeitgemäß zeitgemäß wirkt.
An Shakespeares Text wurde stark herumgedoktert (Fremdtext, Auslassungen, Umstellungen) und obwohl ich mich selbst durchaus als Kennerin des Stückes bezeichnen würde ( nicht in allen Details, aber in den Abläufen, Verbandelungen und tragischen Handlungen), hatte ich ab und zu etwas Mühe, das Gesehene in den Handlungsrahmen einordnen zu können. Das ist nicht unbedingt ein schlechtes Zeichen, es erforderte nur mehr Konzentration und Willen sich auf das Stück einzulassen. Frankenstein war da dem Zuschauer einfacher zugänglich (einfachere Dialoge, klarer Handlungsfortgang). Dennoch war auch diese Inszenierung ein lohnenswerter Zeitvertreib, denn in beiden Fällen gilt: Wäre Corona nicht gewesen und die Theater nicht geschlossen worden, hätte ich möglicherweise keins der Stücke je gesehen, weil mir die Zeit fehlte oder ich in der falschen Stadt/Land wohne.
Ich kann jedem nur wärmstens empfehlen jetzt noch ein wenig das Internet zu durchforsten – verschiedene Webseiten von Theatern, auch außerhalb Deutschlands, zu besuchen und auszuprobieren, ob nicht etwas Passendes im Repertoire ist. Und wenn die Spielzeit endlich wieder läuft, ist die Lust, alle Kostüme, Bühnenbilder, talentierten Schauspieler und den Hinter der Bühne agierenden kreativen Köpfen live zu sehen bestimmt größer als bisher.
Rebecca Telöken
Tipp: Ab dem 4. Juni kann man die Produktion Coriolanus (Shakespeare) mit Tom Hiddleston bei Youtube über das National Theatre sehen. Die Kollegen der Nachtkritik haben für Deutschland alle aktuellen Live-Streams zusammengestellt und senden sie auch. Die Übersicht findet ihr hier.