In den Wohnzimmern eines Theaters trotz Ausnahmezustand
Bereits seit einigen Wochen bleiben die Türen der Theater in Deutschland geschlossen und es werden Alternativen, meistens im Online-Bereich, gesucht. Auch das Theater Bonn startete am 9. Mai seine Web-Serie „Bonndemie – Lockdown, Liebe, Lagerkoller“ von Volker Racho. Die 3-minütigen Clips des kontaktlosen Theaters gibt es kostenlos bei Facebook, Instagram und auf der Website des Theaters zu sehen.
Ganze acht Wochen lang können Theaterbegeisterte und solche, die es zu Corona-Zeiten werden möchten, die SchauspielerInnen des Theaters online zu sich nach Hause holen. Die kurzen Szenen zeigen dabei Charaktere, Typen und personifizierte Aushängeschilder eines Ausnahmezustandes, die es ohne Corona nicht gegeben hätte. Wenn das Leben komplett auf den Kopf gestellt wird, alles neu geordnet werden muss und das soziale Miteinander still steht, ändert sich auch der Alltag und es entstehen teils völlig ungeahnte Probleme – einzigartige Geschichten. Dabei handelt es sich um Momentaufnahmen von Situationen und Gedanken, die eben nur in dieser speziellen Krisenzeit ausprobiert werden können.
Die Episoden werden jeweils von einem Schauspieler gestaltet, der in einer bestimmten Rolle, einen Prototypen der Pandemiegesellschaft reflektiert. „Der Werber“ lautet der Titel der ersten Episode. Während einige Menschen zurzeit mit ernsten Problemen zu kämpfen haben, hat der Werber, Gustav Schmidt, viel zu viel Zeit und gleichzeitig irgendwie keine Lust auf nichts, oder doch? Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung: Was tun mit dieser ganzen Zeit? Beim „social distancing“ und mit neuen Grußformeln wie „stay home“, bleibt der Gruppenzwang aber dennoch nicht aus. Die neuen Fragen lauten eher „Zoom-Meeting haben – oder nicht haben?“ Das Internet scheint einem ständig neue Vorschläge zu präsentieren, was man mit seiner freien Zeit sinnvolles anfangen soll, das gilt auch für den Werber: Romane schreiben, Yoga machen und Mandarin lernen. So macht es zumindest den Anschein. Aber auch die Aufschieberitis gehört dazu und das ist okay, sagt der Werber. Immerhin litten auch einige Genies der Geschichte an der Prokrastinationskrankheit. Das Problem mit der Lücke 2020 im Lebenslauf löst sich damit zwar leider immer noch nicht, aber wenn die Welt zurzeit aus gutem Grund still steht, ist es vollkommen in Ordnung, auch selbst still zu stehen, keine neue Sprache zu lernen und einfach mal nichts zu tun.
Ganz andere Probleme oder vielmehr eben keine Probleme mehr hat „Der Prepper“, alias Daniel Stock in der zweiten Episode. Wenn man alles im Griff hat, weil man vorgesorgt hat und das „weiße Gold“ die neue Bezeichnung für Klopapier ist, Nudeln und Desinfektionsmittel in Massen gehortet werden, um für die zweite Infektionswelle vorbereitet zu sein, kann man sich zuerst fragen, ob das andere Länder bei der Wahl ihrer Hamsterkaufwaren nicht irgendwie besser hinbekommen haben. Der viel entscheidendere Gedanke scheint aber eher zu sein, was zu viel und was zu wenig ist. Wo hören die absolut richtigen Vorsichtsmaßnahmen auf und wo fängt die Verschwörungstheorie an? Was bedeutet denn eine Wohnung voll „weißen Goldes“ für ihren Bewohner, wenn es dort neben den wertvollen Gütern einfach keinen Platz mehr zum normalen Leben auf dem Sofa gibt? Oder muss man demnächst vielleicht schon ein schlechtes Gewissen haben, wenn man eine Packung Klopapier für den privaten Gebrauch kaufen möchte? Wie viel „Prepper“, Sachen-Horter, steckt in Menschen zu Corona-Zeiten? Und warum eigentlich Klopapier, Hefe und Nudeln?
Die Regie des Projektes, welches zu Beginn der nächsten Spielzeit zu einem musikalischen Theaterabend zusammengeführt werden soll, liegt in der Hand von Hausregisseur Simon Solberg. Dramaturgie führen Nadja Groß und Male Günther; Oliver Nöll kümmert sich um die Film- und Videobeleuchtung und für die Kamera ist Lars Figge zuständig. Mit dabei sind: Annika Schilling, Timo Kahler, Annina Neuling, Sören Wunderlich, Daniel Stock, Lydia Stäubli, Christian Czeremnych, Sandrine Zenner, Klaus Zmorek, Alois Reinhardt, Lena Geyer und Gustav Schmidt.
Statt in den privaten Wohnungen der Schauspieler zu drehen, wie es in letzter Zeit öfter im Internet zu sehen ist, wurden hier richtige kleine Bühnen gebaut und professionell Kamera geführt. Das macht das Gucken angenehm und erinnert zugleich an Sketche, wie man sie von Sendungen wie der „heute Show“ kennt.
Die ersten beiden Clips regen in jedem Fall zum Schmunzeln an und vielleicht erinnert die ein oder andere Äußerung an eigene Verhaltensweisen der letzten Zeit. Doch ist jetzt nicht eher die Zeit, nicht zu streng mit sich zu sein und alles etwas lockerer zu sehen, soweit das möglich ist? Diese Message bringen die kleinen Videos in jedem Fall auf eine charmante Weise und mit einem Zwinkern rüber.
Wie wichtig ist das Bedürfnis nach Kultur in einem eingeschränkten Alltag im Flugmodus? Wenn einem in Zeiten des Ausharrens und Abwartens nichts anderes bleibt als auf die Dinge zu warten, die da kommen, kann Kultur wohl auch nicht die Welt retten und eine Pandemie stoppen. Aber beim Wunsch des herbeigesehnten normalen Alltags, können Humor und die Konfrontation mit Kreativität zumindest für ein paar Minuten aus Stress, Druck und Angst entführen – und somit einem Lagerkoller entgegenwirken. In diesem Sinne #stayhome #staysafe, nicht nur im körperlichen Sinne.
Die nächste Folge gibt es am 13. Mai um 17 Uhr.
Kim Sterzel