(Vorschaubild (c) Antonia Schwingen)
Am 18. März 2016 hatte in der Halle Beuel der vollends ausverkaufte Poetry Slam unter dem Motto „Raus mit der Sprache!“ großen Erfolg. Junge Poeten aus ganz Deutschland beeindruckten mit ihrer Redegewandtheit die Zuschauer und konkurrierten um den Gesamtsieg.
Während das Publikum seinen Platz einnimmt, bietet eine Zwei-Mann-Band mit wirren Frisuren und betont ungepflegtem Äußeren eine musikalische Einlage dar.
Endlich betritt der Moderator die Bühne – mit geschminkten Wunden im Gesicht, zotteligen Haaren und zerrissenen Kleidern verkörpert er das Klischeebild eines Obdachlosen. Der Grund für diese Aufmachung ist weder klar ersichtlich, noch erfolgt eine Erklärung vonseiten der Veranstalter.
Nach einer kurzen Begrüßung erklärt er die Slam-Regeln. Sie lauten wie folgt: Nur eigene Texte und Zitate sind erlaubt, bei letzteren darf auch gesungen werden. Requisiten sind nicht gestattet; der Vortrag ist auf sieben Minuten beschränkt.
Anschließend wird eine Publikumsjury ermittelt, bestehend aus sechs Urteilenden mit Punktetafeln. Die acht Teilnehmer des Slams werden für die Vorrunden in zwei Gruppen mit jeweils vier Personen aufgeteilt. Gruppe 1 besteht aus Felix Bartsch aus Koblenz, Rainer Holl aus Dortmund, Meral Ziegler und Tom Schildhauer aus Köln. In Gruppe 2 befinden sich Lisa Schøyen aus Bremen, Anke Fuchs aus Bonn, Florian Cieslik aus Frankfurt und Casjen Ohnesorge ebenfalls aus Bonn.
Felix Bartsch betritt als erster die Bühne. Er schlurft ein wenig und grinst schüchtern. „Wie schön, dass gerade mir die undankbare Ehre zuteil wird, als erster aufzutreten. Das wünscht sich hier echt jeder…“ Mit diesem sarkastischen, aber durchaus sympathischen Kommentar beginnt er auch seinen Vortrag. Mit „Ich hasse Partys“, outet er sich als typischer Feiersnob und entlarvt jegliche Klischees eines Clubgängers aus dem abwertenden Blickwinkel seiner Rolle heraus. Die Zuschauer lachen, applaudieren, wenn sie sich in seinen Worten wiedererkennen und geben ihm nach seinem Auftritt stattliche 32 Punkte.

Der zweite Slammer, Rainer Holl, berichtet über die Aggression, die bei ihm entsteht, wenn ihm eine fremde Stimme aus dem Radio empfiehlt, sich jeden Tag eine gewisse Zeit für sich zunehmen und dabei tief durchzuatmen – dabei hetze ihn der Alltag jedoch so sehr, dass gerade diese eine Stimme aus dem Radio letztendlich der Auslöser für einen längst überfälligen Wutausbruch ist.
Rainer arbeitet vor allem mit Schnelligkeit, sodass seine Nachfolgerin Meral Ziegler mit ihrer ruhigen Sprechweise kurz für Verwirrung sorgt. Ihr Vortrag „High Five vs. Hitlergruß“ unterscheidet sich auch inhaltlich von den ersten beiden Texten. Er behandelt das aktuelle Thema der Ausländerfrage. Als Deutsche mit südländischem Aussehen beschreibt sie ein eigenes Erlebnis, bei dem sie von einem Fußballfan über ihre Herkunft ausgequetscht wurde und konstatiert vor diesem Hintergrund ihre Meinung über den Umgang mit Menschen mit Migrationshintergrund. Meral bringt das Publikum wie ihre Vorgänger zum Lachen, die Intention liegt jedoch nicht in einem Unterhaltungstext, sondern in einem klaren Statement. Dementsprechend ist der Applaus ein wenig gemäßigter, trotzdem hat ihr Vortrag die Halle in eine neue, nachdenklichere Stimmungslage versetzt. Sie erhält 27 Punkte.
Als letzter der ersten Gruppe tritt Tom Schilderhauer auf. Er greift das altbekannte Thema „Machen Computerspiele aggressiv?“ auf und zieht es, da er selbst solche Spiele spielt, gekonnt ins Lächerliche. Mit gewagten Sprüchen wie: „Gut, dass wir die Islamfeindlichkeit haben, in der Zeit können wir versteckt und in Ruhe unsere Amokläufer ausbilden“, gepaart mit viel Sarkasmus bringt er das Publikum zum Toben. Er erreicht dieselbe Punktzahl wie Felix und somit stehen sie als zwei von vier Finalisten fest.
Nach einer kurzen Pause versuchen sich die Slammer der zweiten Gruppe, Lisa Schøyen macht den Anfang. Frei und mit ruhiger Stimme zieht sie das Publikum sofort in ihren Bann. Ihr Text „Ach Zeitung, ich verlasse dich“ ist in Gedichtform vorgetragen und fokussiert die Zeitung als, neben seiner informierenden Funktion, oftmals enttäuschendes und manipulierendes Medium.
Auf Lisa folgt Anke Fuchs, die ohne große Vorrede beginnt: „Manchmal habe ich Angst vor mir“. Welche Abgründe hat der Mensch, welche kleinen Momente gibt es, in denen man sich einmal, ganz kurz, dazu entschließen könnte, aus der Bahn zu geraten, nur um zu verstehen, was das für ein Gefühl ist? Warum fasziniert es mich, mich selbst in Todesgefahr zu bringen? Gedanken, die der Mensch nicht ausspricht, die aber mit Sicherheit in dem ein oder anderen schlummern. Sehnsucht und zugleich Angst davor, für eine Sekunde die Kontrolle zu verlieren, selbst Gott zu spielen. Anke spricht so leise, dass man sich anstrengen muss, um sie zu verstehen, ihr Vortrag gleicht einem Selbstgespräch. Sie geht kommentarlos und lässt eine aufgewühlte Menge zurück, die teils tief berührt, teils vollkommen verständnislos ist.
Der nächste Kandidat ist Florian Cieslik, ein inzwischen in der Szene bekannter Slammer, der bereits mehrfach in Bonn aufgetreten ist. Locker und selbstsicher steht er auf der Bühne und bezeichnet seinen Text lakonisch als „Prometheus 3.0“. Dann fährt er eine Sprachgewandtheit auf, die es diesen Abend noch nicht gegeben hat. Er bezeichnet Edward Snowden als Prometheus, den Titanen, der dem griechischen Göttervater Zeus das Feuer stahl und zu den Menschen brachte. Mit einer Mischung aus modernen Technikbegriffen und antikem Mythos überzeugt er durch stilvolle Wortwitze und Originalität. Er verlässt unter tosendem Applaus das Publikum.
Zuletzt gibt Casjen Ohnesorge seinen Text zum Besten. Mehr noch als dieser beeindruckt Casjens facettenreiche Stimme, der man jegliche Tonlage von unterhaltsamem Plauderton bis hin zu aufbrausendem Emotionsausbruch vollkommen abnimmt. Als Zuschauer schwankt man zwischen der Versuchung zu lachen und disziplinierter Selbstbeherrschung. Casjen simulierte mitunter Stimmungsschwankungen, wodurch sein Temperament unberechenbar. Das Publikum ist angetan, für die Finalrunde reicht es jedoch nicht.
Auch für die zweite Gruppe stehen am Ende zwei eindeutige Finalisten fest: Lisa und Florian. Somit besteht die Finalisten-Konstellation aus Felix Bartsch, Tom Schilderhauer, Lisa Schøyen und Florian Cieslik. Nun müssen die vier Kandidaten in der dritten und letzten Runde des Slams mit neuen Texten um den Gesamtsieg ringen.
Felix betritt zum zweiten Mal die Bühne. „Seid ihr gut gelaunt? – Gut, ich auch nicht!“ Der erste Lacher ist gelungen, noch bevor der Slammer sein Thema präsentiert: „Gedanken, die man sich nie auszusprechen trauen würde – am Beispiel des Aufenthaltes in einem Vergnügungspark“. Felix liefert eine Anekdote nach der anderen, die allesamt jedem Vergnügungspark-Kenner bekannt sein sollten und mit denen man sich identifizieren kann. Felix zeigt auf brillante Art, wie albern sich Menschen dort oft verhalten. Das Fazit seines Beitrags lautet: „Man sollte und darf unangenehme Wahrheiten aussprechen – das habe ich an diesem Tag gelernt.“ Das Publikum applaudiert laut.
Als Tom in den Lichtkegel tritt, ist bereits offensichtlich, dass die Erwartungen der Zuschauer hoch gesetzt sind. Der Titel „Brief an Pegida, die AfD und die ganzen anderen“ lässt zunächst die Befürchtung aufkommen, dass Tom nun eher einen seriösen Text präsentiert – doch spätestens mit dem Satz „Die Technik ist der eigentliche Eindringling in unserer Gesellschaft!“, ist das Eis gebrochen. Zusätzlich vermenschlichte er technische Geräte und imitierte einen R2D2 („bi-pu-bi-pu-pu“), womit Tom das Publikum in seinen Bann zieht. Die Menge johlt. Die Botschaft „Ich schlage vor, den Fortschritt zu beenden, wir sollten gegen die maschinelle Zukunft vorgehen“, erreicht die Anwesenden jedoch auf angenehm satirischem Wege, zumal Tom selbst bekennender Technikfan ist.
Lisa stell mit der gleichen leisen wie fesselnden Stimme der ersten Runde ihre „Lyrische Bestandsaufnahme – Was mir bleibt“ vor. Mit geschlossenen Augen, emotionsgeladen und gestenreich, kreiert sie erneut diese faszinierende Atmosphäre, mit der sie sich gerade von ihren komödiantischen Kollegen besonders hervorhebt. Mit den Schlussworten „Gehab dich wohl, mein Herz – viel Glück“ lässt sie ein perplexes wie begeistertes Publikum zurück.
Zuletzt erfolgt der zweite Auftritt von Florian – diesmal mit einem Bericht über seinen Besuch im Ministerium für Wissenschaft und Kunst. Mit seiner lässig-lockeren Haltung bringt er die Anwesenden immer wieder zum prustenden Lachen, während er gleichzeitig sein Anliegen deutlich macht: Slammer sollten nicht benotet werden. Einen solchen Versuch habe nämlich das Ministerium unternommen, indem es ihm eine Textprobe über „Dantons Tod“ vor einer Jury abverlangt habe.
Auch wenn Florians erster Text über Prometheus inhaltlich besser nach zu vollziehen war und von den Zuschauern mit noch mehr Lachern und Applaus belohnt wurde, scheint der Slammer an diesem Abend der Publikumsliebling zu sein. Wiederum erntet er nach seinem Vortrag ein besonders lautes Klatschkonzert.
Nun ist das Publikum an der Reihe: per „Applausometer“ wird der Gewinner des Poetry Slams ermittelt – wer den stärksten Beifall bekommt, siegt. Schnell wird jedoch klar: Das Applausgefälle zwischen Tom und Florian ist gleich Null – auch nach mehreren Durchgängen ist kein Unterschied zu bemerken. Das Publikum liebt beide gleichermaßen. Die finale Entscheidung lautet also: Tom UND Florian sind die Gewinner des Slams. Sie haben bei dem Motto „Raus mit der Sprache!“ definitiv ins Schwarze getroffen.
Ein abwechslungsreicher wie amüsanter Abend geht zu Ende. Mit wärmster Empfehlung soll an dieser Stelle auf die Fortsetzung der Slam-Reihe am 25.5.2016 hingewiesen werden.
Tabea Laufenberg & Antonia Schwingen