Das Theater Bonn gedenkt des Bonner Novemberprogroms vom 10.November 1938
„Manchmal habe ich das Gefühl, diese Gedenkveranstaltungen finden nur statt, um das Gewissen zu beruhigen.“ Er herrscht betretenes Schweigen, vereinzelt senken die Anwesenden den Blick, wieder andere wenden sich ab und folgen mit den Augen den Vogelschwärmen, die am allmählich dunkel werdenden Himmel über dem Rhein am Moses-Hess-Ufer dahinschwirren. Doch es ist offensichtlich, dass niemand sich wirklich den nachdenklich stimmenden, teils unterschwellig nach Empathie verlangenden Worten der Vorsitzenden der Synagogengemeinde Bonn entziehen kann und will. (Vorschaubild ©Antonia Schwingen/Tabea Laufenberg)
Um nachvollziehen zu können, was für einen triumphalen Umschwung die Gedenkveranstaltung anlässlich der 77 Jahre zurückliegenden Pogromnacht am 10. November 1938 in diesem Moment erfährt, muss wohl zunächst zum Beginn des Programms zurückgeblendet werden: Die Stuhlreihen im Foyer des Bonner Opernhauses sind restlos gefüllt, das überwiegend ältere Publikum (mit Ausnahme einer anwesenden Schulklasse) lauscht der durchaus gelungenen Rezitation einiger Gedichte Iakovios Kambanellis, eines griechisch-jüdischen Dichters, der das Konzentrationslager Mauthausen überlebt hat. Das Interesse hält an, auch als die Sprecherin Birte Schrein (aus dem Schauspiel-Ensemble) die Bühne verlässt und ihrem Kollegen Thomas Wiese (Dirigent und Studienleiter der Oper) für das angekündigte Klavierspiel den Platz überlässt.
Nach zehn Minuten ähnelt die Atmosphäre bereits der eines Loriot-Sketches: Ein Handy klingelt, erste Reihe Mitte. Während der Maestro am Klavier nahezu vergeht vor Leidenschaft und sein Instrument mit allen Mitteln bearbeitet, wickelt eine ältere Dame in aller Seelenruhe ihr Bonbon aus, ungeachtet der Blicke ihrer Sitz- und Vordernachbarn. Das zweite Handy klingelt, dieses Mal zweite Reihe links. Der Pianist beendet sein Werk mit einem fulminanten Finale, das Startsignal für das dritte Handy, das unmittelbar vor der Bühne klingelt. Der Besitzer, statt sich wie seine Vorgänger empört im Raum umzublicken, zieht die Lärmquelle gelassen aus der Jackentasche und nimmt ab. Nur der Applaus des Publikums für den Pianisten übertönt das Gespräch.
Der erste Teil der Veranstaltung war eine rein künstlerische Vorstellung, für den zweiten Teil werden Ort und Duktus gewechselt. Er findet am Ufer des Rheines statt, draußen, in der Dämmerung, an der Stelle, wo heute vor 77 Jahren die Bonner Synagoge abbrannte. Ein Klarinettist eröffnet mit traditioneller jüdischer Klezmermusik die Fortsetzung. Die Atmosphäre ist nicht vergleichbar mit derjenigen des ersten Teils. Nachdem die leisen Töne verstummt sind, wird erklärt, warum man heute hier zusammengekommen ist und inwiefern aus der Vergangenheit gelernt werden kann und muss. Zunächst werden durch den Bonner Bürgermeister Ashok-Alexander Sridharan die Formalitäten abgehakt: Danksagungen, Warnungen und Versprechen sowie Beispiele bekannter Bonner Freiheitskämpfer. Aber ein wichtiger Aspekt bleibt noch außen vor – der eigentliche Grund, aus dem der Gedenktag veranstaltet wird: Es kommt in keinem Moment das tatsächliche, unbeschreibliche Ausmaß der Nacht zum Ausdruck, in der die Synagogen und Läden in Deutschland brannten – so zerreißend, so schrecklich, dass ein Mensch es nicht ertragen kann. Wie will man diese Katastrophe auch vermitteln, ohne gleichzeitig allzu unsachlich zu werden? Die Anwesenden sind in fortgeschrittenem Alter, viele sind jüdisch, viele haben vermutlich einen Bezug zum Geschehenen.
Gerade als merklich die ersten Besucher beginnen, Sinn, Zweck und Aussagekraft der Veranstaltung zu hinterfragen, ändert sich das Konzept mit einem Mal drastisch: Die dritte Rede, gehalten von der Vorsitzenden der Bonner Synagogengemeinde, Dr. Margaret Traub schlägt ein wie eine Bombe und stellt – vermutlich eher unbeabsichtigt – den bisherigen Ablauf der Veranstaltung bloß. Ihr Sprechstil ist aufgebracht und sie macht ihre persönliche Problematik ganz deutlich: Ihres Erachtens finden Gedenkveranstaltungen, wie die hiesige, nur statt, um das Gewissen zu beruhigen. Und der bisherige Verlauf der Veranstaltung zollt dieser Aussage Tribut: Was bislang vorgetragen wurde, war unpersönlich, es fehlte das Herzblut, es war nicht heftig genug. Alles war irgendwie statisch, die Aussagen lakonisch. Zuviel Professionalität, zu wenig Emotion. Wo sind die Zeitzeugen, die nicht zurückhaltbaren Tränen, die glaubwürdig vorgetragenen Erinnerungen? Aus den Worten Traubs spricht eine tiefe Bitterkeit, und das obwohl sie viel zu jung ist, um selbst bei den schrecklichen Ereignissen zugegen gewesen zu sein. Sie spricht auffälliger Weise auch nicht von der allgemein sogenannten „Reichskristallnacht“ – sie verwendet den im Französischen gängigen Begriff „Nacht der langen Messer“. Ihre Begründung: „Dieser Name passt viel besser zu dem, was hier passierte. Es war eine Explosion von Gewalt und Zerstörungswut und darauf kommt es an. Wen kümmert es, ob es vor 76 oder 77 Jahren passierte, das macht das Geschehene nicht weniger schrecklich“. Die Bonner Synagogenvorsitzende demonstriert das Ausmaß der Verbrechen ohne weit ausschweifende Beschreibungen, allein ihre Mimik, Stimme und offenkundige Verbitterung zeugen von der erschreckenden Aktualität der Umstände: Antisemitismus gebe es heute noch – viele Jugendliche wüssten nicht einmal, dass das Judentum noch immer existiert. Grundsätzlich ein berechtigter Vorwurf, wenn man bedenkt, dass Juden heutzutage im Schulunterricht häufig nur dann thematisch auftauchen, wenn sie entweder verfolgt oder vergast wurden. Auch dass die hebräische Sprache heute noch gesprochen und die Religion noch ausgeführt wird, ist vielen tatsächlich nicht bewusst.
Laut Traub lebt der Antisemitismus heute unter dem Synonym des Antiisraelismus weiter – eine These, mit der sie zum Israel-Palästina-Konflikt überleitet. Vor diesem Hintergrund positioniert sie sich ganz klar: „ Israel ist der kollektive Jude, der für alles auf dieser Welt verantwortlich gemacht wird.” (Dieser Kommentar kann hier lediglich in dieser Form stehen gelassen werden mangels eines Kommentars der Gegenseite). Abschließend erfolgt ein im Tonfall dezenter, aber bestimmter Gefühlsausbruch, ausgelöst durch die anhaltende Nichtakzeptanz der Juden in Europa: “Ich möchte nur ein einziges Mal einer solchen Veranstaltung wie dieser beiwohnen, bei der ich nicht dazu gezwungen bin, ein Beispiel von Antisemitismus aus jüngster Zeit vorbringen zu müssen.”
Der Rede Traubs, die die anfängliche Statik der Veranstaltung bereits aufgelöst hat, folgt der sicherlich emotionalste Programmpunkt des Abends: Zwei Sänger rezitieren ein jüdisches Gebet in Liedform und erzeugen dadurch eine ausgesprochen besondere Stimmung unter den Anwesenden. In diesem Moment wird den Zuschauern deutlicher denn je vor Augen geführt, dass es bei der heutigen Gedenkveranstaltung um Israel als einer modernen Nation und das Judentum als einer nach wie vor praktizierenden Religionsgemeinschaft geht.
Hiermit endet die Gedenkveranstaltung und die Anwesenden zerstreuen sich. In Bezug auf die Gesamtwirkung ergibt der erste Programmteil im Opernfoyer im Nachhinein absolut einen Sinn: Er bot dem Publikum eine durch seinen kulturell-kreativen Charakter behutsame Einstimmung auf die Thematik. Mit dem anschließenden Ortswechsel wandelte sich auch die Einfühlungsbereitschaft, man war mit einem Mal Teil eines besonderen Moments.
Angesichts des deutlichen Nachhalls dieser Veranstaltung erscheint es umso wichtiger, jene Art kultureller Zusammenkünfte in Zukunft beizubehalten. Auch die Bonner Gedenkveranstaltung wird im kommenden Jahr wieder stattfinden.
Antonia Schwingen & Tabea Laufenberg