Blut ist dicker als Wasser

BLUT IST DICKER ALS WASSER - EIN GESCHWISTERPROJEKT REGIE: Christina Schelhas / BÜHNE und KOSTÜME: Laura Rasmussen / VIDEO: Norman Grotegut / LICHT: Lothar Krüger
© Thilo Beu

Christina Schelhas‘ Geschwisterprojekt startet in der Werkstatt

(Vorschaubild © Thilo Beu)

Es ist eine Gute-Laune-Atmosphäre, mit der die Zuschauer in der Werkstattbühne bei Blut ist dicker als Wasser begrüßt werden, einem selbstrecherchierten- und inszenierten Geschwisterprojekt der jungen Regisseurin Christian Schelhas, das am 21.10.15. Premiere feierte. Alle acht Geschwister schwingen an großen Schaukeln und stellen uns in einer kurzen Dia-Projektion die Bedeutung von Geschwistern vor: Von Anbeginn der Menschheit waren Geschwisterpaare wichtig für die gesellschaftliche Entwicklung. Kain und Abel wäre alleine nicht Kain und Abel, ohne die Fehde zwischen Karl dem Großen und seinem Bruder gäbe es Europa in dieser Form nicht, und ohne die Konkurrenz zu seinem Bruder Heinrich wäre Thomas Mann nicht der berühmte Schriftsteller geworden, der er ist. Und auch Bonn wäre eine andere Stadt, wenn die Beziehung zwischen den Riegel-Brüdern nicht so gut gewesen wäre. Geschwister, so wird hier deutlich, sind notwendig für unsere Gesellschaft. 

,,Stopp! GRUPPENFOTO!“, so ruft es hinter dem Vorhang. Alle Geschwister strömen auf die Bühne und stellen sich auf. Klick: Alle posieren brav nebeneinander. Klick: Ein paar schneiden Grimassen. Klick: Der eine schubst den anderen ein bisschen. Klick: Jeder zieht den anderen an den Haaren. Dann ist das Klicken nicht mehr zu hören, Streit ist angesagt: Jeder brüllt auf seinen Bruder oder seine Schwester ein. Dann verlassen alle unter laustarken Geräuschen die Bühne und die einzelnen Geschwisterpaare beginnen, sich vorzustellen. Über jeweils mehrere Szenen hinweg erzählen sie den Zuschauern ihre gemeinsamen Biographien.

Eine bewegte Geschichte haben Jochen und seine insgesamt sieben (Halb-)Geschwister. Er tritt alleine auf und erzählt seine Geschichte nur mithilfe von Dia-Projektionen. Jochen hat einen größeren Bruder und weitere Geschwister in seiner „ersten Familie“. Denn nachdem sich seine Mutter von seinem Vater getrennt hat, lernt sie einen neuen Mann kennen, der ebenfalls zwei Kinder hat. Aufgrund der schlechten Beziehung zu diesem Stiefvater zieht Jochen zu seinem leiblichen Vater und dessen neuer Frau. Aus dieser Ehe gehen drei Kinder hervor, also noch mehr neue Geschwister für Jochen. Die Zeit über fühlt Jochen sich ohne Zugehörigkeit – gerade im Internat, in das er unfreiwillig geschickt wird. In der späteren Verteilung der Erbschaften wird er zunächst von beiden Vätern übergangen, doch seine Halbgeschwister beteiligen ihn an ihrem Erbe. In seiner letzten Szene wünscht er sich, als Zauberer verkleidet, dass alle sieben Geschwister an seinem nächsten Geburtstag anwesend sind. Man gönnt ihm als Zuschauer sehr, dass dieser Wunsch in Erfüllung geht!

Eine ganz besondere Geschwisterbeziehung verbindet die Zwillinge Katharina und Johanna. Sie rivalisierten schon in der Eizelle miteinander, und doch kann die eine nicht ohne die andere. Sie „sind nicht gleich alt und machen auch überhaupt nicht alles zusammen“, wie sie, exakt gleich angezogen und synchrone Bewegungen ausübend, als eine Tanzfigur zusammen behaupten. Vorurteile gegenüber Zwillingen à la „Zieht ihr immer das gleiche an?“ lehnen die zwei ab, obwohl ihre Erscheinung das genaue Gegenteil aussagt und an einigen Stellen wissende Blicke zwischen ihnen gewechselt werden. Es wird im Laufe der Szenen immer deutlicher, wie besonders eine Zwillingsbeziehung ist. Man geht sich auf die Nerven und zwar tierisch, es besteht die gleiche Rivalität wie in jeder anderen Geschwisterbeziehung. Aber doch würden Katharina und Johanna beide füreinander sterben und könnten nicht ohne einander leben. Naja, vielleicht für eine Minute – aber das auch nur, um die eine Minute von der Geburt wieder aufzuholen.

Zwei Jungs, ein Mädchen – ein Dreigespann! Mit Karlotta und ihren beiden jüngeren Brüdern Emil und Kornelius (genannt „Neli“) wird es so schnell nicht langweilig. Karlotta erläutert ihre Geschwister-Beziehung anhand eines mehr oder minder wissenschaftlichen Modells: ,,Das Gehirn lässt sich in fünf Teile teilen.“ Jeder dieser Teile habe eine Aufgabe zur Bewältigung des alltäglichen Geschwisterwahnsinns. So sei der Teil der verbalen und non-verbalen Kommunikation von großer Wichtigkeit, vor allem wenn es, laut Karlotta, Zeit sei, den Mittelfinger zu zeigen. Der wohl wichtigste der fünf Gehirnsektoren sei jedoch jener, der die Geduld und Zurückhaltung im Umgang mit den Geschwistern kontrolliert. Genau dieser Teil, so Karlotta, funktioniere bei ihr nicht mehr. Die Auswirkungen dieser „Funktionsstörung“ bekommen wir als Publikum lautstark zu hören! Doch auf einen lauten Streit folgt die Versöhnung und die Brüder sagen ihrer Schwester, was sie ganz besonders macht: ,,Ich finde es gut, dass du mir immer bei den Hausaufgaben hilfst“ etc. In einem sind sich Emil und Neli besonders einig: Karlottas Wutausbrüche sind echt nervig! Insgesamt beweisen die drei Geschwister jedoch eine sehr liebevolle Beziehung zueinander. So schlafen sie meist in einem Zimmer und erzählen sich eine etwas abgewandelte Version des Märchens Die zertanzten Schuhe. Zudem beweisen sie in einer kleinen, mit Musik unterlegten Vorführung gemeinsamer Kunststücke, dass sie alle an einem Strang ziehen und sich gegenseitig vertrauen können.

Die litauischen Schwestern Leonarda und Nijole verbindet eine ganz besondere Geschichte: Leonarda flieht in jungen Jahren aus ihrem trostlosen Alltag in Litauen und beginnt ein Au-Pair Jahr in Bonn. Sie hält aber mit ihrer Schwester weiter Briefkontakt. Beide finden schnell heraus, dass sich die Stimmungen ihrer Briefe stark unterscheiden: Während Leonarda begeistert von ihren Erlebnissen in Deutschland erzählt, muss sich Nijole eingestehen, dass sie in ihrem hoffnungslosen Alltag gefangen ist. Doch beide Schwestern sprechen sich gegenseitig Mut zu. Für die eine den Mut, in Deutschland Fuß zu fassen und für die andere, in Litauen durchzuhalten. Die doch sehr schwermütigen Briefe enthalten aber auch muntere Passagen: ,,Weil du in Deutschland bist, haben wir heute ohne dich deinen Geburtstag gefeiert. Mama hat sogar dein Lieblingsgericht gekocht.“ Leonarda entschließt sich, in Deutschland zu bleiben. Damit bereitet die Schwester eine Chance vor, die Nijole in ihrem 46. Lebensjahr wahrnimmt: Auch sie entschließt sich, ihrem Leben in Litauen den Rücken zu kehren. Sie springt ins kalte Wasser und zieht zu ihrer Schwester nach Bonn. Nach achtzehn langen Jahren sind die Schwestern wieder vereint. Darauf stoßen die Powerfrauen mit einem Hochprozentigen an. Prost!

„Wer hat Lust auf eine Runde Reise nach Jerusalem?“, ruft es wieder aus dem Off. Alle! Die Geschwister versammeln sich um die Schaukeln und umrunden diese tanzend zur Musik. Die Musik stoppt, jeder stürzt sich auf einen Sitzplatz. Derjenige, der leer ausgeht, ist raus. Doch hat diese Person jetzt die Möglichkeit, eine Geschichte über ihre Geschwister loszuwerden. So erfahren wir z.B., dass Karlotta und Emil Neli schon mal im Schrank eingesperrt haben und dass Katharina die Kuscheltiere ihrer Schwester absichtlich vom Hund hat zerstören lassen.

„Hätte ich keine Schwester, hätte ich nie die Kraft und Möglichkeit gehabt, mein Leben zu ändern.“ Mit diesem Satz bedankt sich Nijole am Ende des Abends bei ihrer Schwester Leonarda. Auch die anderen reflektieren noch einmal über ihr Leben mit Geschwistern und ziehen Fazit. Diese reichen von ganz banalen Feststellungen, wie: ,,Hätte ich keine großen Geschwister, wäre ich nicht der kleine Bruder“ bis hin zu philosophischen Überlegungen, wie: ,, Hätte ich keine Schwester, dann wüsste ich nicht, wie es wäre, nie alleine zu sein“. Alles in allem machen die Brüder und Schwestern in Blut ist dicker als Wasser jedem Zuschauer durch ihre Geschichten verständlich, wie froh sie sind, sich zu haben und gemeinsam durchs Leben gehen zu können – wenn auch der ganz bewusst gezogene Kontrast zum Einzelkinder-Dasein an einigen Stellen etwas zu hart und plakativ gerät.

Tabea Herrmann & Sofia Grillo

Die nächsten Termine von Blut ist dicker als Wasser findet ihr hier.

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