Nachdem im Residenztheater in München SANKT FALSTAFF in der Überarbeitung von Ewald Palmetshofer ein großer Erfolg war, kommt das Stück nun auch nach Bonn, wo Tillmann Köhler die Regie führt. Am 17.Oktober feierte das Stück Premiere im Schauspielhaus.
John Falstaff, ein verarmter, aber den Genüssen des Lebens zugetaner fettleibiger Ritter, der den Frauen nachstellt, verbringt seine Lebenstage in seinem Lieblingsclub. Dort trifft er eines Tages den nichtsnutzigen Königsspross Prinz Harri. Ab diesem Zeitpunkt vergeuden die beiden ihre Tage gemeinsam, bis der dahinsiechende Vater Heinrich IV. seinem Sohn das Angebot unterbreitet, sein Thronnachfolger zu werden. Harri weiß allerdings nicht, dass sein Vater den jungen „Hitzkopf“ (Riccardo Ferreira), den Sohn seines Gefolgsmanns Percy, der Heinrich gute Dienste bei der Niederschlagung von Aufständen in der Provinz leistet, ebenfalls den Thron in Aussicht gestellt hat, sollte jener für Ruhe im Land sorgen. So entbrennt zwischen den beiden Söhnen ein blutiger Kampf um die Macht im Land.
Bis hierhin folgt der Autor Ewald Palmetshofer in groben Zügen Shakespeares Vorlage, dem zweiteiligen Drama Heinrich IV., aus dem u. a. die Titelfigur entstammt, die dort nur eine Nebenfigur ist, die im Laufe der Rezeptionsgeschichte aber aufgrund ihrer Menschlichkeit bekannter wurde als die eigentlichen Hauptrollen.
Allerdings „überschreibt“ Palmetshofer in vielen Punkten das Original. So spielt das Stück in einer nahen Zukunft, in einem unbekannten Land, das auch Deutschland sein könnte. Heinrich IV. (Wilhelm Eilers) ist Politiker, vom Volk „Heinz“ genannt, regiert aber wie ein „Quasi-König“. Obwohl Heinz später im Stück behauptet: „Wir sind auf unsere Art Demokraten“ herrscht er de facto als Autokrat; unterstützt von nur zwei Beratern: „Hirn“ (Daniel Stock) und „Mundstück“ (Jakob Z. Eckstein). Bei diesen ist man sich nie sicher, für wen oder was sie eigentlich arbeiten, immer jedenfalls auch zum eigenen Vorteil.

Neben diesen Abänderungen in der Rahmenhandlung, hat Palmetshofer vor allem die Beziehung zwischen John Falstaff (Sören Wunderlich) und Harri (Paul Michael Stiehler) dramatisiert, in dem die beiden nicht einfach nur Saufkumpane sind, sondern Gefühle füreinander haben, was besonders ab dem Punkt sehr zu Herzen geht, wenn der Machtkampf sich auf ihr Verhältnis auswirkt und Harri John fallen lässt.
Was angesichts dieser ganzen „Modernisierungen“ ungewohnt und sperrig anmuten mag, ist die Verssprache, die Palmetshofer benutzt und durch alle Rollen mit vulgärer Alltagssprache mischt. Damit möchte er, wie das Programmheft erläutert, die Grenzen, die bei Shakespeare zwischen Ober- und Unterschicht gezogen werden, aufheben. Tatsächlich gewöhnt man sich schnell um und durch manche Wortumstellung erhalten die Dialoge auch fast überraschende Wendungen mit denen die Schauspieler*innen arbeiten können (Dramaturgie: Nadja Gross).
Tillmann Köhler inszeniert zum ersten Mal in Bonn und hat das verworrene Macht- und Intrigenspiel, das ganz in Shakespeares Sinn gestaltet ist, in einen gelben Guckkasten gesetzt (Bühne: Karoly Risz). Gelb als die Farbe des Geldes, der Macht sowie des Neids und der Gier symbolisiert die Faktoren, die im Laufe des Stückes immer mehr die Rollen zersetzen. Der Guckkasten ist eine enge Welt, in der eine enge giftige Gesellschaft herrscht. Am Ende, als sich gegen die autokratische Herrschaft langsam Widerstand im Volk regt, zersplittert auch der Kasten, der eben jenes Volk einengt. Unterstützend begleitet ein Soundteppich, zum Teil so leise, dass man ihn fast nicht wahrnimmt, die Szenen (Musikalische Leitung: Matthias Krieg). Imke Siebert gibt zudem zweimal eine musikalische Einlage mit Texten, die wahrscheinlich dem shakespeareschen Text entstammen.
Sören Wunderlich ist im ersten Moment vielleicht nicht der geborener Falstaff als schlanker Typ, weswegen ein künstlicher Fettwanst der Phantasie des Publikums nachhelfe soll, ihn sich als Fresser und Säufer vorzustellen (Kostüme: Susanne Uhl). Obwohl Wunderlich ein gutes Gespür für Komik hat, die er zum Beispiel auch in einer früheren Rolle als Valerio in Büchners LEONCE UND LENA (2013) unter Beweis gestellt hat, sind seine stärksten Momente jene, in denen er Johns Missmut, seine Enttäuschung und Verletzlichkeit zutage treten lässt. Der verratene und doch noch treue Falstaff (auch hier eine Abweichung von Shakespeares ursprünglicher Figur) rührt ohne viele Worte.
Paul Michael Stiehler gibt den verführerischen Prinzen Harri als zerrissene Figur, die nicht zu ihren Gefühlen stehen kann, einen Menschen, der statt sich John anzuvertrauen, ihn lieber vorführt und demütigt, der das was John ist, begehrt und verachtet und der der Macht des verhassten Vaters nicht widersteht, der einen Mord begeht, um das zu bekommen, was er will.
Heinrich IV, alias Heinz, spielt souverän den Souverän, despotisch und bis zum äußersten politisch taktierend zum Wohle seiner Herrschaft – der Tod schreckt ihn nur in Bezug auf sich selbst, allen anderen ist er ein Kollateralschaden. Dadurch gerät er allerdings auch etwas einfarbig.
Beim Publikum kamen Riccardo Ferreiras Auftritte als „Hitzkopf“, dem ehrgeizigen, aber naiven Anführer einer namenlosen Bewegung, sehr gut an. Vor allem als er in einer langen Unterredung mit Heinz den Drang pinkeln zu müssen zu unterdrücken versucht und ein kleines Feuerwerk des Mimenspiels zum Besten gab.

Foto: (c) Matthias Jung
Gut drauf war auch Sophie Basse, die die selbstbewusste und systemkritische Clubbesitzerin Frau Flott und Hitzkopfs Vater Percy in Doppelrolle spielt. Basse gelingt es, nicht nur für den nötigen Spaß, der bei Shakespeares Dramen nicht fehlen sollte, zu sorgen, sondern auch, dass mancher Lacher dem Publikum im Hals stecken bleibt. Den Wechsel zwischen Komik und Tragik bringt sie besonders gut als Frau Flott zur Geltung.
Bisher hatten wir Kate nicht erwähnt. Sie ist die Ehefrau von Hitzkopf und wird von Imke Siebert verkörpert. Sie ist eine abgebrühte Karrierefrau, hat Hitzkopf vollkommen im Griff und scheint die Vorkommnisse zu durchschauen, sie aber nicht zu verhindern. Sogar bei der Nachricht des Todes ihres Mannes trauert sie kaum, sondern sieht zu, noch das Beste, sprich Geld+, aus der Situation herauszuholen, bevor sie sich absetzt.
Daniel Stock als „Hirn“ bringt zusammen mit Jakob Z. Eckstein als „Mundstück“ einiges an Dynamik ins Intrigengeflecht. Wobei beide nicht als eine Einheit, sondern durchaus auch gegeneinander arbeiten, einander misstrauen und ihre jeweiligen Pläne schmieden. Als zweite Rolle spielt Stock „Ed“, den schmierigen Lover von Harri, der John in seiner ganzen Existenz hasst und dies auch herrlich komisch verbal kundtut.
Palmetshofer hat sein Stück bewusst „Sankt“ Falstaff genannt. Ob man es nun ironisch oder ernst nimmt, John ist an sich alles andere als ein herkömmlicher Heiliger: er ist ein Mensch, der versucht, durchs Leben zu kommen und dabei „gut“ zu bleiben. Am Ende ist auch er des dauernden Existenzkampfes müde, „ hofft nichts mehr“ und gibt zu „maskierte Einsamkeit“ hinter seinen Späßen zu sein. Ohne die Späße, die er treibt, stände er in der Gesellschaft vollkommen nackt da, denn er hat sonst nichts, was ihn vor den Menschen schützt.
SANKT FALSTAFF ist ein Stück, in dem die nahe Zukunft am Tiefpunkt angekommen ist – in der das Volk mit Kameras beobachtet wird (Video: Lars Figge), Bewegungen durch Gewalt unterdrückt, wo (falsche) Meinungen durch das das Internet verbreitet werden. Es ist eine Warnung an uns, was passiert, wenn wir alles laufen lassen und meinen „es wird schon alles gut werden“.
Die Welt von John und Harri ist eine toxische Welt. Sich diesem Gift zu widersetzen erscheint kaum mehr möglich und so fragt auch Harri, selbst vom Gift infiziert, resigniert: „Wie wird man in dieser Gesellschaft nicht giftig, John?“
Zugleich ist SANKT FALSTAFF ein Stück des Widerstandes und diesen Widerstand weckt John Falstaff, der sich im letzten Akt, um Heinz’ Worte zu benutzen „auf seine Art“ von den Ketten dieser unterdrückenden Welt befreit. Sein künstlicher Fettwanst, den er abwirft, stellt insofern auch mehr da, nämlich die Last der Unfreiheit und der Unterdrückung, von dem sich John am Ende zu befreien weiß. Mit einer Art Liebeserklärung an die Menschen, fordert er sie dazu auf, sich zu befreien, bevor er sich von einer Brücke stürzt und somit einfach verschwindet.
Bei dreieinhalb Stunden plus Pause war der Premierenabend zwar nicht vollständig ausverkauft, doch trotz der langen Spieldauer und der in Versen gesprochenen Texte blieben die allermeisten Zuschauer*innen auch nach der Pause, gespannt wie das Drama weitergeht. Zum Schluss gab es viel Applaus und Standing Ovations für das Ensemble.
Auf Nachfrage von Theatral bei einer Zuschauerin, wie sie den Abend fand, sagte sie mit einem glücklichen Lächeln: „Skurril, aber toll“ – dem haben wir nichts hinzuzufügen, denn die dreieinhalb Stunden vergehen wie im Flug und das Ensemble sorgt für die nötige emotionale und kritische Auseinandersetzung auch nachdem der Vorhang gefallen ist.
Rebecca Telöken
