WER GIBT GERECHTIGKEIT?

„Das Rechtgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder“ – nicht weniger dramatisch beschreibt Heinrich von Kleist gleich zu Beginn seiner 1808 veröffentlichten Novelle den Protagonisten Michael Kohlhaas. Im Schauspielhaus Bonn feierte nun die Adaption „Kohlhaas (Can’t get no Satisfaction) von Rebekka David Premiere. Die Erzählung folgt dem anfangs tugendhaften brandenburgischen Pferdehändler Michael Kohlhaas auf seiner zerstörerischen Irrfahrt durch das Justizsystem des 16. Jahrhunderts.

Kohlhaas, der ein paar stattliche Tiere in Dresden verkaufen will, werden an einem Rittergut, dessen Herr der Junker Tronka ist, mit einem Trick die Pferde abgenommen. Er würde für die Weiterreise einen „Passschein“ benötigen, welchen Kohlhaas gar nicht besitzen kann, da es einen solchen nicht gibt. Obwohl er ahnt, dass Tronka mit ihm ein falsches Spiel spielt, lässt er zwei seiner Pferde und seine Magd Herse (im Original einen Großknecht) als Pfand zurück und kehrt mit einem Ersatzschreiben an die Burg des Junkers zurück. Dort muss er feststellen, dass Tronka in der Zwischenzeit Kohlhaas’ Pferde hat halb verhungern lassen und dass Herse von Tronkas Knechten verprügelt und verjagt auf sein Gut zurückgekehrt ist.

Kohlhaas fordert Gerechtigkeit für den angerichteten Schaden an Mensch und Tier und wendet sich an verschiedene juristische Instanzen. Er wird jedoch immer wieder abgewiesen, da der Junker mit den dortigen Entscheidungsträgern verwandt ist, so dass keiner sich traut, ihn anzuklagen. Schon deutlich frustriert will seine Frau Lisbeth ihr Glück versuchen, da sie sich wegen eines alten Verehrers mehr Chancen ausrechnet. Ihr Mut wird allerdings mit einem qualvollen Tod belohnt, nachdem ihr eine Wache des Herrn, den sie sprechen wollte, seine Lanze vor die Brust stößt. An den Folgen der Quetschung stirbt sie nach wenigen Tagen. In weiser Vorausschau, wie es um das Gemüt ihres Mannes bestellt sein wird, will sie ihn noch mit biblischem Verweis bitten, seinen Feinden zu verzeihen, aber dafür ist es längst zu spät. Alle Rechtschaffenheit fällt von dem zornentbrannten Witwer ab und es beginnt eine Hetzjagd auf den Junker, der sich erst von seinem Gut, das von den Knechten und Mägden Kohlhaas’ niedergebrannt wird, retten muss, dann in Wittenberg, Leipzig und schließlich Dresden untertaucht. In der Zwischenzeit sterben viele andere, die den von Kohlhaas gebildeten „Haufen“ begegnen. Anders als beispielsweise Karl Moor in Schillers Räuber, quälen Kohlhaas bei seinen Taten erst dann Zweifel, als Martin Luther persönlich ihn auf seinen krummen Begriff von Gerechtigkeit stößt, um dem Getriebenen Einhalt zu gebieten.

Regisseurin Rebekka David folgt dem kleistischen Text in weiten Teilen – auch die Kostüme der Schauspieler sind an die Mode der damalige Zeit angelegt (Kostüme: Florian Kiel) – , lässt aber gegen Ende die komplizierte politische Seite der Erzählung, in der es um die Streitigkeiten verschiedener Landesherren im Falle Kohlhaas’ geht, weg. Dafür setzt sie gemeinsam mit Dramaturgin Nadja Gross neue Akzente in die Erzählung. So werden die im Original nur als Nebenfiguren auftretenden Magd Herse und Knecht Waldmann zu Revolutionären im zwiespältigen Sinn: Aus dem untersten Stand kommend repräsentieren sie das unterdrückte Volk, das sein Verständnis von Gerechtigkeit wesentlich weiter fasst als Kohlhaas. Es will die Abschaffung der Ständegesellschaft schlechthin und benutzt dessen Selbstjustiz für eigene Zwecke.

Foto: (c) Matthias Jung
Sie wollen Gerechtigkeit – aber welche? V.l.n.r. Birte Schrein, Karoline Horster, Janko Kahle, Daniel Stock und Jakob Z. Eckstein Foto: (c) Matthias Jung

Die Rolle des Michael Kohlhaas verkörpert Janko Kahle erst als glühender Streiter der Gerechtigkeit und wandelt sich schleichend in einen kalten Despoten, der den Menschen nur die Wahl lässt, auf seiner Seite zu stehen oder Tod und Plünderung ihres Besitzes hinnehmen zu müssen. Den immer unbarmherziger werdenden Händler verkörpert Kahle eindrucksvoll, doch obwohl er quasi als neuer Napoleon ein starke Figur macht, tritt er in der zweiten Hälfte immer mehr in den Hintergrund. Dafür wachsen Karoline Horster (Herse) und Daniel Stock (Waldmann) immer tiefer in ihre Rollen hinein, vom hitzigen Schlagaustausch und dem Ringen um eine für alle (!) akzeptable Form von Gerechtigkeit bis hin zum Scheitern, nachdem Kohlhaas „die Sache“ für die sie gemordet haben und in der sie selbst gemordet wurden, einfach beendet.

Ebenfalls interessante zusätzliche Rollen bekleiden Jakob Z. Eckstein und Birte Schrein. Ersterer tritt zunächst als Junker, dann als Advokat* und schließlich als Küchendiener des Junkers auf. Letzterer bildet im Kontrast das revolutionäre Volk. Obwohl er sich erst der Sache Kohlhaas’ anzuschließen scheint, stellt er sich bald als „junkerstreu“ heraus und verbreitet Parolen, die stark an die der AfD erinnern. Birte Schrein als Kohlhaas’ Ehefrau Lisbeth, später als „Mittlerin“ Elken, sowie als Martin Luther ist stets bemüht, nach einem Mittelweg zwischen den extremen Gegenpositionen zu suchen, sieht sich aber ebenfalls bald scheitern. Luthers Ansprache an Kohlhaas intoniert sie hervorragend, als Mittlerin zwischen den Knechten sorgt sie für Humor, wenn sie Redezeit oder Redeverbot erteilt.

David verwendet nur ein Bühnenbild (Robin Metzer). Zwei von unheimlichen Pferdestatuen bekrönte Burgen flankieren die Seiten, rahmen die Szenerie bedrohlich ein. Es sind die Behausung des Junkers und die Burg Wittenbergs. Zudem hängt groß und schwer eine Kette von der Decke (ein Detail, auf das man ggf. auch hätte verzichten können). Während der Zerstörungswellen im Stück verwandeln sich die puzzleartig zusammengesetzten Teile der Burg in den Friedhof der unschuldig Ermordeten. Auf den Pferdestatuen thront erst der Junker, dann Kohlhaas, der sich dadurch in eine Art Napoleon verwandelt. Bei Napoleon denken heutige Zuschauer*innen auch an die Attitüde des Bonapartimus**, die dieser Tage US-Präsident Trump zugeschrieben wird, der in dem Stück zwar nicht namentlich erwähnt wird, sich aber dennoch unverkennbar hineingeschlichen hat.

David will mit (fast) allen Mitteln die Aktualität der über 200 Jahre alten Novelle vor Augen führen, was ihr in der ersten Hälfte gut gelingt. Auch die zweite Hälfte der Novelle hätte aber durchaus Stoff geboten, unsere Gegenwart widerzuspiegeln. Insgesamt beginnt das Stück stark, lässt gegen Ende aber im Vergleich zu den Szenen, in denen das Brandschatzen in Zentrum steht etwas inhaltlich nach, denn der Schluss gerät arg knapp. An mancher Stelle waren auch die aktuellen Anspielungen etwas „dick aufgetragen“ (Attentat auf Trump), manches eingefügte Wort-Gefecht arg verklausuliert (man kann die Metapher eines Weberschiffchens, das den Menschen in der Gesellschaft symbolisiert, auch überstrapazieren).

Kaum jemand der Zuschauer wird nach diesen zwei Stunden den Theatersaal nicht nachdenklich verlassen. Vielleicht sogar mit dem Gefühl, dass die Verhältnisse heute doch besser sein müssten als diejenigen damals, es aber möglicherweise gar nicht sind. Trifft die Aussage des Mönchs und Philosophen Peter Abaelardus „Wir mögen die Strafe nicht, die gerecht ist, wohl aber die Handlung, die ungerecht ist“ in diesem Fall zu? Oder mag man hier weder die Handlung noch die Strafe nachvollziehen? Nun, die Inszenierung macht das schmerzhafte Dilemma der Realität deutlich: Eine richtige Antwort scheint es nicht zu geben. So scheint der Stücktitelzusatz – Can’t get no Satisfaction – sich nicht nur auf Kohlhaas’ Situation zu beziehen, sondern ebenso auf die des Publikums.

Rebecca Telöken & Vera Kunze

*Advokat: Ein altes Wort für Rechtsanwalt

** Bonapartismus: Die Geschichtswissenschaft definiert den Bonapartismus als ein politisches System, das sich durch eine „besondere, volksbezogene und immer wieder auf den Volkswillen rekurrierende Form der Diktatur im monarchischen Gewand“ auszeichnete . (Wikipedia)

War es das am Ende wert? Foto: (c) Matthias Jung