Die Saison 2024/25 im Schauspiel hat begonnen
Dass die brennenden gesellschaftlichen Themen auch in der neuen Saison dem Schauspiel Bonn keine Ruhe lassen, davon konnte man sich gleich in der ersten Premiere am vergangenen Freitag im Schauspielhaus Bad Godesberg überzeugen: Das Stück 216 MILLIONEN von Lothar Kittstein, der in Bonn zuletzt als Dramaturg mit RECHT AUF JUGEND zu sehen war, knüpft an die Klimathematik an und beleuchtet sie aus einer neuen Perspektive.
216 Millionen – eine unfassbar große Zahl. Eine beunruhigend große Zahl. Denn es geht um Menschen, die zukünftig zu Nomaden werden, aufgrund der unsicheren Zustände in ihren Heimatländern, sollte sich in Sachen Klimapolitik nicht Grundlegendes ändern.
Um dieser abstrakten Zahl ein Gesicht zu geben, hat Regisseur Volker Lösch für seine Inszenierung vier Geflüchtete mit ihren persönlichen Geschichten auf die Bühne geholt. Sie berichten dem Publikum in chorischer Sprechweise (Löschs Markenzeichen), wie sie nach Deutschland kamen.
Es ist nicht unschmerzhaft ihre Geschichten zu hören. Der eine wurde wegen seiner sexuellen Orientierung in Haiti bedroht (Pizzar Stanley Pierre), eine Mutter und ihre Tochter, Afghaninnen, wegen ihrer Herkunft zu Menschen zweiter Klasse herabgewürdigt und jahrelang getrennt (Nadia und Kayci Feyzi), der vierte hat wegen des Klimawandels seine Kakaoplantage in Guinea verloren (Sadou Sow). Ihre Geschichten finden sich zusammengefasst auch im Programmheft, so dass man einen Draht zu den Menschen auf der Bühne bekommt. Stoisch, in reinem weiß gekleidet, erzählen und erzählen sie von ihren Erlebnissen aus den Ländern, die sie verlassen haben und von dem Land, in das sie geflohen sind: Deutschland. Im wechselnd chorischen Vortrag kommen Trauer, Angst, Wut, Verzweiflung und Enttäuschung zum Tragen.

Bis mit einem lauten Knall die Ebene von der persönlichen Erfahrung auf die politische Bühne wechselt.
In einem riesigen Käfig, an dem die Sterne der EU-Fahne zu sehen sind (Bühne: Valentin Baumeister), hängen die Profi-Schauspieler. In fröhlich bunten Hosenanzügen präsentieren sich der Wissenschaftler Paul (Paul Michael Stiehler), seine Frau Elena, Menschenrechtsanwältin in Brüssel (Sophie Basse), Peters Schwester, Lisa die Aktivistin ist und bei den Seenotrettern arbeitet (Imke Siebert) sowie der Energiekonzernbesitzer Nat Cole (Daniel Stock) und schließlich die namentlich nicht erwähnte, aber in dem Blau der EU und durch die Erwähnung ihrer zahlreichen Kinder schnell zu identifizierende, Ursula von der Leyen (Lydia Stäubli). Sie alle treffen sich auf der besonderen Sonderklimakonferenz, denn auch in Brüssel hat man das Problem erkannt: Der Klimawandel begünstigt Migration.
Um der Konferenz einen moralisch-künstlerischen Anstrich zu verleihen wurde zudem ein Künstler, Serge (Alois Reinhardt), zur Konferenz geladen, der sich darüber amüsiert, dass die Organisatoren meinen, er würde unterhalten. In Wahrheit will er die ganze Konferenz in ein Kunstwerk verwandeln und dabei die wahren Motive hinter den Verhandlungen aufdecken.
Alle Charaktere verfolgen ihre eigenen Ziele – ohne Zweifel sind die Lager dabei geteilt zwischen dem eloquenten, aber kühl kalkulierenden Ölkonzernriesen Nat Cole sowie der wankelmütigen und stets auf Ausgleich bedachten von der Leyen, die beide dafür sorgen wollen, dass möglichst wenig Menschen nach Europa kommen, sowie der Aktivistin Lisa und der Menschenrechtsanwältin Elena, die sich für ein wesentlich liberaleres und faireres Asylrecht einsetzen. Eine besondere Rolle spielt der Wissenschaftler Paul. Er hat einen Superscreen erfunden, mit dem man die schädlichen UV-Strahlen einfach vor der Erdatmosphäre abfangen kann, womit die Temperaturen gesenkt würden. Der Superscreen könnte also die Lösung zur Abwehr aller klimabedingten Katastrophen sein. Doch die Erfindung auf dem Papier birgt in den falschen Händen ebensolche Gefahren. Und so dauert es nicht lange, bis Nat sich für Pauls Erfindung interessiert, ist sie doch so etwas wie eine Art Schlüssel, um die irdischen Wetterphänomene zu beherrschen.
Die Konflikte auf der Konferenz sind vorprogrammiert – sowohl auf inhaltlicher als auch auf privater Ebene. So gesellen sich zu den Menschheitskrisen, die Ehekrisen nämlich gleich hinzu, was der Thematik eine gewisse leichte Note verleiht (dennoch sollten wir alle froh sein, dass die Eheprobleme nicht auf den Klimakonferenzen ausgetragen werden).
Um das Stück nicht zu sehr in eine Politkomödie abgleiten zu lassen, haben Kittstein und Lösch das Ende gleich dem Anfang erneut mit einem chorischen Schluss versehen, in dem Geflüchtete und Schauspieler nun gemeinsam agieren. Hier tut Kunst weh, soll Kunst eine Botschaft vermitteln, aufrütteln. Die Inszenierung ist damit klar strukturiert, selbst die anfangs blütenweiße Kleidung ist am Ende in ein (elegantes) Trauerschwarz gewechselt (Kostüme: Teresa Grosser). Vor allem wird durch das Manifest am Ende die Position des Schauspielensembles zur Asyldebatte deutlich, die im Mittelteil noch in der Schwebe bleibt. Bei diesem Thema muss man Flagge zeigen – nur welche?
Die Stärke des Stückes liegt sicher genau in dem immer wieder rasanten Schlagabtausch der Argumente. Falsche Entschuldigungen und Zirkelschlüsse werden gnadenlos enttarnt, sogar vor Handgreiflichkeiten wird nicht zurückgeschreckt. Ob sich hieraus wirklich realistische oder utopische Lösungen ergeben, bleibt offen. Dennoch lohnt sich der Abend, der ohne Pause gute zwei Stunden dauert, gerade für die Sprachduelle zwischen den unversöhnlichen politisch-wirtschaftlich-ethischen Positionen.
Das Ensemble hat alles aus sich rausgeholt, entsprechenden Applaus belohnte diese kräftezehrende Leistung zurecht.
Rebecca Telöken
