Die Spannung unter den Premierengästen im Schauspielhaus war doppelt groß – zum einen musste die Premiere von ARCHETOPIA von Hausregisseur Simon Solberg verschoben werden, zum anderen machten die am Eingang als Schiffsbesatzung kostümierten Abendhilfen neugierig, was die Zuschauer wohl erwarten würde.
Der Titel ARCHETOPIA – ein Kompositum aus Arche, also das berühmte Schiff aus der Bibel, das dafür sorgte, dass heute die Menschheit trotz der Jahrhundertflut überleben konnte und Utopie, worunter man „auf die Zukunft gerichtete politische und soziale Vorstellungen, die Wunschbilder einer idealen Ordnung oder fortschrittlichen menschlichen Gemeinschaft“ (bpb) versteht – verspricht eine fantasievolle Reise.
Der Vorhang hebt sich und wir sind tatsächlich an Bord eines Luxusdampfers. Eine illustre Gesellschaft feiert ausgelassen unter einer Reihe Portraits (besonders wichtig Thomas Morus) und Bildern mit kenternden Booten in dickem Goldrahmen. Die Reise verläuft friedlich, bis das Schiff plötzlich seinen Kurs verliert und das Chaos ausbricht. Orientierungslos treiben Schiff und Gäste nun auf dem Meer, das die Welt ist, umher und müssen nun zusehen, wie sie sich zurechtfinden. Wie die Arche sucht die Besatzung nach Land, aber warum klein stapeln? Man sucht nach einem verheißungsvollen Ort – einer Eutopia – einem guten Ort, wo die Menschheit besser zusammenleben kann als derzeit. Doch wo findet man einen solchen Ort? Und was bedeutet es überhaupt, wenn man von einer besseren Gesellschaft spricht?
Hier endet erst einmal der erzählerischer Teil und es folgt ein wilder Ritt durch die Jahrhunderte mit vielen, vielen Namen und Ideen. Denn obwohl Thomas Morus mit seinem Jahrhundertroman „Utopia“ den Startschuss für das Genre der utopischen Literatur gegeben hat, gibt es Modelle von ideellen Staaten bereits seit der Antike, wie ihn der Philosoph Platon in seiner „Demokratie“ erdachte. Dazu gesellen sich weniger bekannte Namen wie der des Dominikaners Tommaso Campanella, der sich einen Sonnenstaat erdachte oder auch die französische Schriftstellerin Christine de Pizan, die im 15. Jh. in ihrem Werk, „Die Stadt der Frauen“ Frauen dieselbe Macht und Bildungsmöglichkeiten gab wie den Männern. Doch waren diese Utopien wirklich diese verheißungsvollen Städte nach denen man sich sehnte?

Foto: (c) Bettina Stöß
Die Antwort heißt meistens: Nein. Alle noch so verlockenden Ideen haben ihren Haken. Für Platon waren nur Männer, die das Athener Bürgerrecht besaßen, wahlberechtigt; die einen sind rassistisch, die anderen sexistisch. Irgendwie sind die utopischen Orte doch nicht für alle Menschen etwas. Das Stück verdeutlicht :Einen „Guten Ort“ gibt es nicht. Ein schönes Beispiel dafür ist ein Projekt der Gegenwart: „The Line“. Eine sich in Bau befindende Zukunftsstadt, die durch ihre besondere Konzeption sich selbst versorgt und somit die ressourcen-schonendste Stadt der Welt und Vorbild für alle anderen hätte werden können. Doch nun kommt das böse Erwachen: gebaut wird sie in Saudi-Arabien, ein Land bei dem man bezweifeln muss, ob dort die Menschen gleichberechtigt werden leben dürfen, dazu wird die Stadt in der Wüste errichtet und ihr Bau verbraucht so viel CO2, dass manch andere Mega-City darüber erblassen würde.
Simon Solberg zeigt eine erhebliche Ausdauer im Zusammensuchen von Informationen. Um es dem Publikum etwas zu erleichtern, werden die Namen und Gesichter der zahlreichen Denker*innen und Forscher*innen an die seitlichen Bühnenwänden projiziert. Für kleine Pausen sorgen musikalische Intermezzi. Diesen Umstand habe wir bisher noch gar nicht erwähnt, eigentlich ist der Abend ein Liederabend. Die Schauspieler*innen Julia Kathinka Philippi, Imke Siebert, Jacob Z. Eckstein, Riccardo Ferreira und Max Wagner haben an diesem Abend also alle Hände voll zu tun, nicht nur mit dem rasanten Rollenwechseln von Voltaire bis zu Silberfüchsen und Neandertaler (Kostüme: Ines Burisch), sondern auch mit den humorvoll umgedichteten Songs, die ein breites Spektrum von deutsch und englischsprachigen Songs abdecken. Für den nötigen Groove sorgen die Live-Musiker Jan Günther, Philip Mancarella und in wechselnder Besetzung Samuel Reissen / Nico Stallmann.
Regisseur Simon Solberg hat im Prinzip alle Mittel an der Hand, um eine spannende und kritische Auseinandersetzung mit den Ideen und Hoffnungen unserer Zeit auf die Bühne zu bringen. Leider springt der Funke nicht bei jedem über, weil die einzelnen Bestandteile aus Gesang und Information und der Rahmenhandlung nicht richtig ineinandergreifen. Die adaptieren Lieder mit ihren umgeschriebenen Texten sind leider nicht richtig zu verstehen und so, obwohl wir ihre inhaltliche Verbindung nicht bezweifeln, scheinen sie beinahe mehr dem Lückenfüllen für den Bühnenumbau zu dienen. Auch die zahllosen Namen werden nach einer Zeit nicht mehr innerhalb der Geschichte eingebunden, stattdessen tragen Voltaire, Rousseau, Elon Musk, und wie sie alle heißen, ähnlich einem Schulreferat ihre Ideen frontal dem Publikum vor. Ist das Überforderungstheater? Überfordert fühlt man sich in diesem Sinne nicht, denn man kann den Inhalten gut folgen, aber es ermüdet und macht weniger Lust sich mit der Materie weiter zu befassen. Dabei sprüht das Stück von vielen spektakulären Bühnenumbauten für die Solberg selbst verantwortlich ist. Und das macht es auf seine Weise sicher für den wissbegierigen Zuschauer wieder reizvoll. Auch da Publikum erhält eine kleine Aufgabe von der wir aber Schweigen, damit die Überraschung nicht verdorben wird.
Den Höhepunkt des Spektakels bildet sicher das beeindruckende Ende, in dem die aufgrund der vielen gescheiterten Utopien frustrierte Mannschaft aus den Resten des mittlerweile gekenterten und zerstörten Schiffes ihr eigenes Floß (der Medusa) bauen – denn die Menschheit hat schon immer von Ideen und Hoffnung auf eine bessere Zeit gelebt. Es steht die Erkenntnis am Ende, dass dieses Utopia gar kein Ort, ist, den „u“ – heißt im Griechischen „nicht“, also ein Nicht-Ort. Wir müssen also weiterhin suchen und uns auf Reisen begeben, damit wir vielleicht eines Tages dorthin gelangen, was sich (vielleicht) alle Menschen wünschen: Ein friedliches Zusammenleben – zwischen Menschen, aber auch zwischen Mensch und Natur. Ein kleiner Wermutstropfen: wenn es so einfach wäre, wäre es ggf. schon längst geschehen, aber meistens stehen wir uns selbst im Weg, denn was gut, erstrebenswert und gerecht ist, ist leider dann doch nicht in der Vorstellung aller Menschen gleich.
Unser Fazit: Dieser Abend hatte sicher seine Schwächen, für die inspirierenden Anregungen, die den Zuschauer*innen mitgegeben werden, könnte sich ein Besuch aber dennoch lohnen.
Rebecca Telöken
