FUKUSHIMAS TOTE KUSCHELKÜHE

DIE KINDER FEIERN PREMIERE AUF DER WERKSTATTBÜHNE

Was ist mein Leben wert? Verändert sich das mit dem Alter? Welche Verantwortung habe ich für das Leben Anderer, Jüngerer? Wie setze ich den Rest meines Lebens sinnvoll ein? Was erfüllt mich dabei? Am 19.1.2024 feierte das Stück DIE KINDER von Lucy Kirkwood Premiere auf der Werkstattbühne Bonn. Es zeichnet mit bissigem Humor und skurrilen Ambiente ein Drama von Unausweichlichkeit und Selbstaufgabe.

Inspiriert von einer Gruppe ältere Japaner, die sich freiwillig meldeten, um das havarierte Atomkraftwerk in Fukushima unter Kontrolle zu bringen, um so die jüngere Stammbesatzung von der tödlichen Arbeit zu befreien, verlegt die Autorin Lucy Kirkwood die Handlung in ihre Heimat Großbritannien. In ihrer dystopischen Erzählung verhandelt sie anhand eines sich gerade zur Ruhe gesetzten Physiker-Ehepaares, das im nahe gelegenen Kraftwerk nicht nur gearbeitet, gearbeitet und es mit aufgebaut haben, Fragen von gesellschaftlicher und existenzieller Bedeutung. Das Kraftwerk ist analog zu der Katastrophe in Fukushima havariert und bestimmt so insbesondere das Leben der Protagonisten.

Dieser Tanz könnte böse Enden. Ehefrau Hazel wirkt jedenfalls nicht angetan. Foto: (c) Thilo Beu

„Ich würde wirklich gerne irgendwann sterben.“ So die männliche Rolle Robin (Wilhelm Eilers) im Dialog mit seiner Frau Hazel (Birthe Schrein) bei dem er selbst versucht, sich mit seiner Sterblichkeit auseinanderzusetzen und dem, was er mit seinem verbleibenden Leben noch anfangen will. Er strebt damit dem Höhepunkt eines dramatischem Theater-Crescendo entgegen, welches durch den Besuch und den Absichten der Jugendfreundin des Paares Rose (Ursula Grossenbacher) ausgelöst wird, in dem sie das Paar zuerst mit den Geistern der Vergangenheit und dann denen der Gegenwart konfrontiert.

Regisseur Jan Neumann inszeniert diese Mischung aus Drama und Komödie in einem skurrilen Ambiente und auch die im Titel genannten Kinder sollen ihren Auftritt bekommen: Das Bühnenbild, welches die Wohnung des Ehepaares darstellt, ist eine mit Meeresbildern bedruckte unebenen Fläche, für die die Bühnenbildnerin Dorothee Curio Teile des Bühnenbildes von DAS FLOß DER MEDUSA* wiederverwenden konnte. Mit raffiniertem Einsatz der Technik wird die Bühne im Laufe des Stückes von einer Nebelkanone entweder großflächig eingenebelt oder nur ein dünner abdeckender Bodennebel erzeugt. Curio ist ebenfalls für die Kostüme zuständig, die auf die extrovertierte japanische Neonkultur hindeuten, von den Motiven/Mustern aber doch eher europäisch gehalten sind.

Überstrahlt wird die ganze Bühne von einer riesigen neon-leuchtenden Sonnenscheibe, die beim Wechsel ihrer Farben, wenn sie das Orange annimmt, an eine untergehende Sonne über dem Meer erinnert, aber meist zusammen mit den anderen Lichteffekten von Johanna Salz sehr zur bissigen Skurrilität der Szenerie beiträgt. Subtil unterstützt wird sie dabei durch das Musik- und Sounddesign von Camil Jammal. Interessanterweise beginnt das Stück nicht erst mit dem Ende des Einlasses oder wie bei anderen Inszenierungen beim Betreten des Theaterraumes durch das Publikum, sondern bereits im Foyer. Dort werden Teile des Sound-Ambientes noch vor dem Einlass abgespielt. Während der Aufführung kommt ein erheblicher Teil der Musik und Hintergrundgeräusche aus den Foyer-Lautsprechern, die durch die Türen in den Theaterraum dringen.

Einfach nur Wellenrauschen hören – das wäre ein schönes Leben … Foto: (c) Thilo Beu

An beiden Seiten der Bühne liegen Kuscheltiere in Form und Aussehen von Kühen in fast Lebensgröße, die für die Rolle der Hazel ihre Verdrängungen und Verarbeitung der Katastrophe stehen und durch ihre Interaktion mit diesen riesigen Kuscheltieren in die Dramatik der Absurdität eingefügt werden. Ansonsten ist das Stück sehr arm an Requisiten, so dass kein eigener Requisiteur an der Inszenierung teilnimmt. Alle komplexeren Handlungen / mutmaßliche Regieanweisungen (Zubereitung von Essen, Figur verlässt den Raum, aber nicht die Bühne, die keine Trennwände hat, um dies darzustellen) werden von aufgezeichneten Kinderstimmen (Nora Martin, Sophia Thea Philippi, Mio Röskens, Louis Röskens, Sammy Schrein, Anastasia Schröder, Anton Stock, Mena Yildirak) eingespielt, die nicht nur ihren Beitrag zur Skurrilität leisten, sondern auch Perspektiven oder innere Dialoge der Charaktere andeuten.

Was zunächst als normales zwischenmenschliches Gesellschaftsdrama beginnt, entwickelt sich zu einer schmerzhaften Auseinandersetzung mit Fragen des Lebens. Dabei wird es den Zuschauern überlassen zu entscheiden, ob es sie mahnen oder inspirieren soll.

Jorg Stephan Kahlert

*Eine Produktion des vergangenen Jahres, welche auf derselben Bühne aufgeführt wurde, mit einem ganz im Gegensatz sehr jungen Ensemble, welches sich aber ebenfalls mit den großen Krisen der Menschheit, nur eben aus der jugendlichen Perspektive heraus, auseinandersetzte.