Uraufführung auf der Werkstattbühne des Theater Bonns von WIR WISSEN, WIR KÖNNTEN UND FALLEN SYNCHRON
Was bewegt unsere Gesellschaft? Die Liste der möglichen Antworten könnte derzeit länger nicht sein. Ganz oben zu finden sind die großen Themen, die ganze Länder, gar die ganze Welt betreffen – Krieg und die Zerstörung der Erde durch die Zerstörung der Natur. Neben diesen medienbeherrschenden Platzhirschen gibt es aber unzählige weitere Probleme, die vielleicht noch symptomatischer für die postpostmoderne Zeit sind, aber immer wieder in Vergessenheit geraten, eben weil sie uns im Alltag immer wieder begegnen. Wer täglich das Elend sieht, sieht es irgendwann nicht mehr oder will es nicht mehr sehen.
In ihrem Debütroman hat sich Yade Yasmin Önder mit mindestens dreien davon beschäftigt: Migration, Bulimie und Gewalt an Frauen. Im Mittelpunkt der Inszenierung steht vor allem die Bulimie, während die ferne zweite Heimat in der Türkei später kaum mehr eine Rolle spielt, nur in den Erinnerungen der etwas 30-jährigen Erzählerin.
Regisseurin Emel Aydoğdu inszeniert zum ersten Mal in Bonn, sie ist aber schon an vielen Bühnen an Rhein und Ruhr gewesen. Dass sie Herausforderungen mag, sieht man daran, dass sie nicht vor der Tatsache zurückgeschreckt ist (es sie vielleicht sogar gereizt hat), dass die Erzählerin des Romans eine Geschichte in mehreren Versionen erzählt. So ist nie klar, welche oder ob überhaupt eine Version der Wahrheit entspricht. Zudem hat sie sich für eine ausgefallenen Gestaltung der Kostüme und des Bühnenbildes entschieden, eine Spielwiese für die Darsteller, die sich auf ihr austoben(Ausstattung: Eva Lochner). Zentral öffnet sich ein Schlund dem Publikum entgegen, dessen lange Zunge als Rutsche alles ausspuckt, was zu lange in ihm bleibt. Aus dem Schlund wachsen sechs Arme wie Tentakel, die nach den Spieler*innen greifen, denen sie sich aber auch anvertrauen. Die Spieler*innen treten in Harlekinkostümen, auf denen übergroße Seepferdchen prangen, diesem Schlund entgegen. Warum Seepferdchen? Vielleicht als Hinweis auf das erste Schwimmabzeichen, denn das Schwimmbad ist einer der wichtigen Orte des Romans. Dennoch erfolgt keine klare Rollenzuweisung. Jakob Z. Eckstein, Roxana Safarabadi und Imke Siebert sind Jemand und alle zugleich. Entgegen dieser fließenden Durchmischung von Figuren folgen die einzelnen Szenen im Leben der Protagonistin fast schon chronologisch aufeinander, was sie im Roman weniger tun, aber dem Zuschauer helfen das Geschehen besser nachzuvollziehen.
Alles beginnt mit dem tragisch-komischen Tod des eher introvertierten aus der Türkei stammenden Vaters, der ein markantes Problem mit Übergewicht hat. Durch nicht ganz klare Umstände kommt er bei einem im Beisein seiner Tochter ums Leben, die seinen Tod nie ganz verarbeiten wird. Diese zerrissene Vater-Tochter-Beziehung bildet den Ausgangspunkt für das ganze Dilemma der Geschichte. Der plötzliche Verlust führt zu einer schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung. Wenn zuhause etwas nicht stimmt, hat es oft auch Auswirkungen auf das gesamte Umfeld. So entwickelt die Protagonistin zuerst Fressattacken, zugleich mobbt sie Mädchen aus ihrer Schule, die in den Augen ihrer Clique zu dünn sind, um schließlich selbst dem lebensbedrohlichen Verlangen nachzugeben, sich nach jeder noch so kleinen Mahlzeit den Finger in den Hals zu stecken.
In einer verspielten Sprache, die einen manchmal ratlos zurücklässt, wird ihre Krankheit von der Erzählerin auch nur „das Symptom“ benannt, zu dem sie wie zu einem Menschen spricht, ihm eine eigene Personalität und ein eigenes Handeln gibt. Bald ist ein Klinikaufenthalt unumgänglich.
Ohne Pause stehen alle Ensemblemitglieder die anderthalb Stunden auf die Bühne. Momente des Schweigens gibt es wenige, meistens dann, wenn während Musikorgien die Fetzen fliegen. Pure Verzweiflung einer Teenagerin, die weder zu sich selbst noch zu ihrer Mutter noch zu Männern gesunde Beziehungen aufbauen kann.
Schon immer haben Schönheitsideale für Kummer gesorgt. Ob organeindrückende Kleider, die Fettleibigkeit im Barock… Seit Jahrhunderten und durch alle Kulturen werden Vorstellungen von Schönheit etabliert, die in der heutigen Zeit sogar zu dem widernatürlichen Verlangen führen können, sich immer und immer wieder zu übergeben, bis die Magensäure die Speiseröhre verätzt..
Diese Krankheit oder “das Symptom” ist im Übrigen kein auf Frauen beschränktes Phänomen. Auch (junge) Männer fühlen sich von durch Socialmedia transportierten Bilder zunehmend unter Druck gesetzt. In Bonn bekommen diese Menschen dank Önder und Emel Aydoğdu eine Stimme, die vor allem auch die Umstände und psychischen Folgen von Bulimie in den Blick nimmt. Stimmungsvoll und abwechslungsreich, traurig und lustig führt die Regisseurin und das Ensemble das Publikum an das Thema heran. Man muss sich aber auch auf eine zum Teil ungewohnte Sprache und symbolische Gesten einlassen wollen, um den Abend voll zu genießen. Am Premierentag war das Publikum dazu mehr als bereit.
Rebecca Telöken

