Brechts DER AUFHALTSAME AUFSTIEG DES ARTURO UI beendet als letzte Premiere die Saison
Der Name Bertolt Brecht ist einer der großen, der von den Theaterbühnen kaum wegzudenken ist. Nicht nur hat er eine eigene Form des Theaters begründet, das sogenannte epische Theater*, sondern Brecht hat durch seinen kritischen Blick, die Gesellschaft an ihren empfindlichsten Stellen gepackt. Bis es weh tat. Auch heutige Schüler*innen werden immer wieder mit dem Stück MUTTER COURAGE UND IHRE KINDER konfrontiert oder LEBEN DES GALILEI. Es gibt Brecht-Dokumentationen und 2018 kam seine berühmte DREIGROSCHENOPER sogar als Spielfilm mit Lars Eidinger in die Kinos. Auf YouTube werden die Originalvertonungen im fünfstelligen Bereich angeklickt. Brecht hat ein eigenes Theater, das Theater am Schiffsbauerdamm, wo das Berliner Ensemble residiert und die Stücke seines Gründers auch nach dessen Tod 1956 bis heute fortführt.
Brecht-Theater ist vor allem Sprechtheater. Brechts Texte treffen ins Mark und das ist ein Grund, warum seine Stücke sich auch heute noch großer Beliebtheit erfreuen.
Nun ist allerdings gerade der ARTURO UI keines dieser ganz beliebten Stücke, obwohl in der Regel jedes Jahr mindestens ein Theater das Stück aufführt. Entstanden ist es 1941 mitten im Zweiten Weltkrieg, und nennt sich „Parabelstück“. Und genau das ist es: Ein Parabelstück auf die gewaltvolle Machtergreifung Adolf Hitlers. Fast alle Figuren im Stück haben eine historische Persönlichkeit als Vorbild, die hier aber nicht alle genannt werden, da darf man auch mal bei Wikipedia gucken. Kein Wunder, dass es erst viel später seine Premiere feiern dürfte, um genau zu sein sogar erst nach Brechts Ableben 1957.
IN ALLER KÜRZE
Der Inhalt ist kurz zusammengefasst dieser: Der Gangster Arturo Ui, ein amerikanischer Italiener, will in Chicago der 30er Jahre das Sagen haben. Anfangs nimmt ihn aber niemand ernst. Erst als die Geschäftsleute des Karfioltrusts (ein Zusammenschluss mehrerer Kohl- bzw. Gemüsehändler) Arturo ins Boot holen, um ihre Geschäftsinteressen bei der Stadt durchzusetzen, nutzt dieser die Stunde und reißt die Herrschaft durch Mord, Gewalt, Einschüchterung und Erpressung an sich. Bei Brecht gibt es keine Figuren, die für die moralisch gute Seite stehen. Selbst die, die es anfangs sind, fallen früher oder später durch ihre eigenen Schwächen auf die Seite der Verbrecher oder erleiden zumindest einen frühen Tod. So Dogsborough, ein ehrlicher Mann, der immer das Beste für die Stadt getan hat, aber durch seinen Traum eine Reederei zu besitzen, in der er selbst früher gearbeitet hat, dann in die Fänge des Trusts gerät. Als Arturo einen Mord begeht, um zu verhindern, dass auffliegt, dass der Handel den Dogsborough eingegangen ist, kein sauberer war, sitzt der ehrliche Mann in der Falle. Und das ist erst der Anfang. Arturo wird noch über viele Leichen gehen, bis er dort steht, wo er sein will: An der Spitze von Chicago.
DIE INSZENIERUNG
Eigentlich sieht Brecht über 30 Darsteller für dieses komplexe Stück aus Politik- und Wirtschaftsthriller vor. Für die Inszenierung in Bonn hat sich Regisseurin Laura Linnenbaum auf zehn Schauspieler beschränkt. Aus der Sicht der Rezensentin haben Linnenbaum und Dramaturg Jan Pfannenstiel sehr intelligent gekürzt, dort wo kleinere Rollen nicht zwingend notwendig waren oder von anderen Figuren übernommen werden konnten. Es entsteht nicht der Eindruck, dem Stück würde etwas Wesentliches fehlen, vielleicht gewinnt es dadurch sogar noch an Fahrt.
DIE BESETZUNG
Die Mehrfachbesetzung bereitet außerdem wenig Probleme, da die Rollen so stark auseinander gehen, dass eine Verwechslung ausgeschlossen ist. So spielt Bernd Braun zu Beginn den Ansager, auftretend als Bertolt Brecht persönlich, dann einen Schauspieler, der Arturo beibringen soll, wie man sich richtig bewegt und spricht: „Man hat mir zu verstehen gegeben, dass meine Aussprache zu wünschen übrig lässt. Und da es unvermeidlich sein wird, bei dem oder jenem Anlass ein paar Worte zu äußern, ganz besonders, wenn’s einmal politisch wird, will ich Stunden nehmen. Auch im Auftreten.“ Herrlich kostümiert wie ein Harlekin aus der Comedia dell’arte und Gustav Gründgens Mephisto lässt Braun Arturo lächerliche Geh- und Sitz-Übungen vollbringen (ähnlich den Anweisungen, die Goethe einst für seine Schauspieler aufschrieb) und Shakespeares Cäsar zitieren. Doch so komisch das ganze anfangs auch wirkt, schnell wird klar, worauf Brecht hier sehr lang und breit anspielt: Auf die Hitler so eigentümliche Sprechweise sowie seine Bewegungen, die ebenfalls einen theatralischen Effekt hatten. Bis heute fragt man sich, wie Menschen von so etwas fasziniert sein konnten, aber wie die Geschichte zeigt, hat es funktioniert und auch bei Arturo wird es funktionieren – und das Schauspiel half ihm dabei. Vielleicht eine oder die bitterste Selbsterkenntnis für dieses.
Und schließlich mimt Braun den brabbelnden Angeklagten Fish, dem Arturo die Schuld an einem Dockbrand am Hafen in die Schuhe schiebt.
Die Hauptrolle des Arturo Ui füllt Christian Czeremnych mit allem schauspielerischem Elan aus. Sein Arturo ist alles: zweifelnd, schmeichelnd, verführend, kaltblütig. Er kennt weder Freund noch Familie – selbst sein ihm treu ergebender Leutnant Ernesto Roma, gespielt von Timo Kählert, wird kurzerhand exekutiert. Manchmal droht die Darstellung etwas ins Extreme zu kippen, doch im rechten Moment gewinnt Czeremnych wieder Gewalt über seine Figur. Bei dem gut drei stündigen Abend fordert das von dem Schauspieler einiges an Energie und Konzentration ab, dennoch scheint er mit seiner Figur verschmolzen, sodass ihm auch der Text flüssig von der Zunge geht.
Kählert, der sonst immer eine gute Figur auf der Bühne macht, überzeugte als verratener Ernesto nicht ganz, manchmal wirkte er etwas steif in seiner Rolle, auch wenn sein Tod gerade durch die Freundschaft und Loyalität zu Ui, die Kählert durchaus überzeugend vermittelt, anrührt. Dagegen machte es Lena Geyer und Jakob Z. Eckstein sichtlich Spaß in die Rollen der Giri und des Givola, zweier äußerst brutaler Gangster für die Hermann Göring und Joseph Goebbels Pate standen. Geyer variiert das irre Lachen, das die genauso irre Giri auszeichnet, bis zur Schmerzgrenze und jagt den Zuhörern sicher den ein oder anderen Schauer über den Rücken; Eckstein hingegen verkörpert eine gefährliche Mischung aus Verführer und Killer. Arturo hängt er ergeben wie ein Hund an der Leine, Ernesto erschießt er ohne mit der Wimper zu zucken. Die beiden erscheinen androgyn, wie ein zweieiiges Zwillingspaar, das die Drecksarbeit für Arturo erledigt. Geyer und Eckstein ergänzen ihre Rollen perfekt und sorgen für eine Atmosphäre der Angst im Saal.
Sophie Basse muss ebenfalls gleich mehrere Rollen bedienen, wobei die der Betty Dullfeet, der Frau eines Zeitungsdruckerei-Besitzers (historisch Dollfuß), sicher am meisten hervorsticht. Erst sich vor Arturo fürchtend, dann mit ihm eine Affäre beginnend, sieht sie sich schließlich vor der Leiche ihres Ehemannes Ui im vollsten Zorn anklagend, um kurz darauf mit ihm als seine Ehefrau an der Spitze Chicagos zu stehen. In Bonn scheint sie diesen Wandel nicht ganz unfreiwillig mitvollzogen zu haben, nach einer stürmischen Affäre mit Ui, während ihr Mann noch lebte, sieht man am Ende einen Babybauch bei ihr.
Dullfeet sowie Dogsborough werden von Andreas Leopold gespielt. Beides schon etwas betagtere Männer, so dass sich die Regie hier einen Spaß erlaubt, indem sich Leopold vor dem Publikum von Dogsborough in Dullfeet verwandelt, indem er seinen Backenbart abnimmt und selbstironisch auf die Verwandlung aufmerksam macht. Diese kleinen Späße kommen der Desillusionierung, die Brecht selbst auch immer wieder für seine Stücke anstrebte, sicher sehr entgegen. Allerdings reizt sie Linnenbaum mitunter auch sehr aus. In der Gerichtsszene, wo es um die Verurteilung des bereits genannten unschuldigen Fishs geht, lässt sie die Gerichtsverhandlung wie ein Marionettenspiel Uis erscheinen, denn er hat bereits die Justiz in seiner Hand. Als Regisseur steht er am Rand des Gerichtssaals und gibt genau Anweisungen, wie Richter und Ankläger zu sprechen und sich zu bewegen haben, gibt ihnen sogar die Worte in den Mund. Ursula Grossenbacher als Richterin hat besonders mit dem Marionettenspiel zu kämpfen – schließlich steht sie für den Rechtsstaat, kann aber keine gerechten Entscheidungen treffen. Die Idee eines Spiels im Spiel ist gut, vielleicht sogar sehr gut, aber sie strengt auch an, sodass man als Zuschauer fast die Lust verliert. Das ist etwas bedauerlich, da gerade die Gerichtsszene einer der Schlüsselmomente ist, die den Verlust von Freiheit und Gerechtigkeit darstellt. Ui ist ab diesem Punkt nicht mehr angreifbar, da es niemanden mehr gibt, der ihn anklagen könnte.
Seinen zweiten Auftritt im Bonner Schauspiel hatte Riccardo Ferreira in gleich mehreren kleinen Nebenrollen. Besonders als freundlicher Reedereibesitzer Sheet, der Uis erstes Todesopfer wird sowie Hook, dem Gemüsehändler, der eigentlich die wahren Brandstifter des Hafendocks enttarnen will, aber von Uis Leuten so zusammengeschlagen wird, dass er sich nicht mehr traut. Der Terror und das gut funktionierende Unterdrückungssystem wird an ihnen vorgeführt. Ferreira spielt die Bürger sehr natürlich in ihrer Angst und ihrem gedemütigten Zustand. Brecht forderte für sein episches Theater stets die Entscheidung des Zuschauers heraus. Durch Schauspieler wie Ferreira fällt es dem Zuschauer sicher nicht allzu schwer, eine Seite zu wählen.
Zuletzt sollte aber auch Wilhelm Eilers nicht vergessen werden, der die Rolle des Clark, einer der Geschäftsleute des Trusts sowie den Ankläger bei der Gerichtsszene spielte. Das perfide seiner Figur liegt in seiner kühlen Kalkulation auf den eigenen Vorteil und zerbricht mit der Erkenntnis, dass nicht diejenigen sind, die das Sagen über Ui haben, sondern er das Sagen über sie. Sie haben den Teufel gerufen. Eilers beherrscht die den Klang und die Betonung seines Textes hervorragend, wodurch seine Figur vielleicht die lebendigste der Trust-Mitglieder ist.

MUSIK – BÜHNE – KOSTÜME
Bei Brecht spielte immer auch die Musik eine wesentliche Rolle. In der DREIGROSCHENOPER ganz besonders. So ist es nicht ganz verwunderlich, dass Sophie Basse auch das Lied der Seeräuber Jenny singt. Auch David Lynchs The Pink Room führt die Zuschauer gleich zu Beginn in das raue Gangstermilieu ein. David Rimsky-Korsakow, der für die Musik zustädnig war, hat aber auch eigene Musik komponiert, die hervorragend zu den bereits genannten Stücken passte.
Laura Linnenbaum hat bereits in ihrer letzten Brecht-Inszenierung (DIE HEILIGE JOHANNA DER SCHLACHTHÖFE 2017) eine Vorliebe für den mehrstufigen Bühnenaufbau gezeigt. Die Stufen, die den sozialen Auf-und Abstieg immer wieder ins Gedächtnis rufen, werden stets variiert. Dazu sind vor allem einfache Holztische ein willkommenes und flexibles Element, aus dem sich Besprechungstafeln sowie Laufstege zaubern lassen (Bühne:Valentine Baumeister). Ansonsten werden nur wenig Requisiten verwendet. Mal ein Papierschiffchen als Hafensymbol, dann ein riesiger Vorhang, der Tischtuch und Kaisermantel zugleich ist.
Philipp Basener, den vielleicht noch der ein oder andere vor ein paar Jahren auf der Bühne in Bonn erlebt hat, ist nun für die Kostümgestaltung verantwortlich gewesen. Seine Kostüme passen sich der Zeit der 30er Jahre an, zeigen aber bei Giri und Givola mehr Verspieltheit, wenn Givola hochhackige Schuhe erhält und seine Kumpanin Giri einen Gürtel trägt, der mit Hacken bestückt ist, an der sie Kleidungsstücke ihrer Opfer anheftet. Das Trauerkleid von Betty Dullfeet fällt dagegen durch sein schlichtes Volumen ins Auge.
UND WIE WAR ES JETZT?
Linnenbaum legt bei ihrer Inszenierung viel Wert auf die komischen Dialoge und Szenen im Text. Das ist keine überzogene Interpretation, denn die Absurdität bringt zugleich das Absurde – nämlich dass Hitlers Aufstieg zum Reichskanzler hätte verhindert werden können- zutage. Man fragt sich ständig: Wie konnte das bloß passieren? Imposante Bilder, Musik und zum Teil groteske Szenen steigern den Abend zu einem Erlebnis, wo vielleicht selbst Netflix nicht mithalten kann. Doch ist das für Brecht nicht fast zu viel Unterhaltung? Läuft die Botschaft Gefahr dem Rausch zum Opfer zu fallen? So hat man am Ende den Eindruck, dass der sehr deutliche Verweis auf die AfD die Relevanz für die Gegenwart unterstreichen soll – waren die Bezüge davor etwa nicht deutlich genug? Und ist es überhaupt immer noch die AfD vor der sich die Gesellschaft fürchten muss, oder ist es nicht eine in der Gesellschaft viel verstecktere Gefahr des Rechtsrucks, der sich eben nicht (nur) in einer Parteizugehörigkeit zeigt? Der Verweis büßt durch seine nicht zuvor konsequente Einbettung in das Gesamtgeschehen an Strahlkraft ein.
ABER:
Eine Schulklasse, die bei der Premiere anwesend war, hat ebenfalls ihr Urteil gefällt. Ihr donnernder Applaus ließ keinen Zweifel aufkommen, dass Linnenbaum bei ihnen das geschafft hat, woran schon viel gelobte andere Inszenierungen gescheitert sind: Freude und Begeisterung bei einem Theaterabend zu erleben. Diese Erfahrung hat an diesem Abend mit einiger Sicherheit nicht nur die Schulklasse gemacht und diese Erfahrung sollte vielleicht auch den kleineren Kritikpunkten ihren Wind aus den Segeln nehmen.
Rebecca Telöken
*EPISCHES THEATER
Das Epische Theater gibt es eigentlich schon seit der Antike. Brecht und Erwin Piscator (der heute weniger gut bekannt ist) referiert auch auf dieses, wenn er sich auch davon in wesentlichen Punkten davon abzusetzen versucht. So will Brecht keine Illusion auf der Bühne erzeugen. Das Stichwort lautet „Verfremdung“. Stattdessen verwendet er verschiedene Techniken, die den Zuschauer zum Betrachter des Geschehens macht und ihn dazu zwingt Position zum Geschehen zu ziehen, Entscheidungen treffen. Um seine Idee von Theater umzusetzen entwickelte Brecht auch eigene Bühnenbild-Ideen, schrieb u. a. mit Kurt Weill Musikstücke und gab präzise Regieanweisungen für seine Schauspielerinnen und Schauspieler.



