Am 22. Januar hatte Joop Admiraals Ein-Mann-Stücks Du bist meine Mutter Premiere.
(Vorschaubild (c) Thilo Beu)
Das Stück wird im Foyer der Kammerspiele in familiärem, gemütlichem Ambiente aufgeführt. Es finden höchstens fünfzig Zuschauer vor der Bühne Platz, was keine unfreiwillige Beschränkung darstellt, sondern vielmehr der gesamten Atmosphäre des Abendsentspricht: einerseits Wohnzimmerflair, andererseits erinnert das Zimmer aber auch an eine persönlich eingerichtete Garderobe eines Schauspielers oder Künstlers.
Protagonist des Abends ist Andrej Kaminsky, der einen Sohn spielt (ebenfalls ein Andrej), der jeden Sonntag von Berlin nach Bonn fährt, denn seine Mutter liegt dort im Altenheim und hat Demenz. Diese Krankheit und ihr Umgang damit sind das Thema des Abends: welche Problematik entsteht durch das Vergessen eines Menschen? Wie gehen Angehörige und engste Verwandte damit um? Das Stück beschreibt einen einzelnen Nachmittag und gibt einen tiefen Einblick in die Gefühlswelt eines Sohnes, der seiner Mutter beim Vergessen zusieht.
Die Bühne ist heimelig eingerichtet, ein Bett, ein Spiegel, Frisiertisch, die Wände überhäuft mit Fotos, warmes Licht in engem Raum. Wir sehen das Zimmer der Mutter im Pflegeheim.Neben dem Frisiertisch stehen mehrere ältere Blumensträuße, die ihr der Sohn und andere Besucher mitbringen. „Siehst du Mutter, damit du weißt, dass man an dich denkt. Ich habe dir auch heute welche mitgebracht!“
„Wer ist meine Mutter?“, fragt der Sohn zu Beginn und beantwortet sich die Frage selbst, indem er von verschiedenen Lebensabschnitten seiner Mutter erzählt – noch ist er für sich, alleine auf der Bühne. Seine Mutter scheint eine Frau mit aufregender Lebensgeschichte zu sein, die ihr Ding durchgezogen und einiges erreicht hat. Jetzt trifft sie ihr Sohn allerdings als müde alte Frau an, die nicht aus dem Bett aufstehen kann oder will, die sich kaum erinnert und immer wieder in minutenlange Denkpausen abschweift, ehe sie mit einem völlig neuem Thema beginnt.

Während Andrej seiner Mutter aufhilft, schlüpft er buchstäblich in die Kleidung und Rolle der Mutter. Das Ankleiden ist eine Prozedur von bestimmt zwanzig Minuten, denn der Mutter fällt alles schwer und sie interessiert sich eigentlich eher für andere Dinge („Sienna, die hat ja immer Tabletten bekommen…“. „Ja, aber Sienna hatte auch Schmerzen! Komm, gib mir mal deinen Arm“). Die beiden verlassen das Zimmer und gehen in den Park des Heimes, wie vermutlich jeden Sonntag. Die einzigen Veränderungen auf der Bühne sind Lichtvariationen. „Oh, die Sonne ist schön warm. Schau mal die Sonne, die ist aber auch wirklich schön!“, ruft die Mutter entzückt.
Die Inszenierung ist durch eine subtile, präzise Einfühlsamkeit und durch Liebe zu kleinen Details geprägt, der Umgang mit der Krankheit Demenz ist berührend und extrem authentisch dargestellt. Mit einer tiefgehenden Menschenkenntnis sind die Handlungen und Reaktionen von Mutter und Sohn dargestellt, und in der einstündigen Spielzeit beobachtet der Zuschauer ein jahrelang gefestigtes Verhältnis der beiden, das durch die Hindernisse und Schwierigkeiten, die das Vergessen der Mutter mit sich bringt, befleckt wird. Auch wenn dies nur der Sohn bemerkt.
Vor allem essentielle Dinge hat sie vergessen und der Sohn versucht verzweifelt, sie in ihr Gedächtnis zurückzurufen. Dagegen sind absolut nebensächliche Erinnerungen in ihrem Geist festgefahren und werden wiederholt erwähnt. In Momenten voller Freude über seinen Besuch, aber auch kleinen Andeutungen über eine gewisse Lebensmüdigkeit, plappert sie heraus, was ihr in den Kopf kommt. Der Sohn dagegen ist mit eiserner Geduld bei der Sache, er hilft der Mutter hoch, zieht sie an. „Was, du möchtest doch nicht den Mantel? Ja, dann nimm diese Strickjacke, die passt ja auch viel besser zu deiner Bluse! Ja, die Bluse ist wirklich sehr schön, das finde ich auch.“Er läuft mit ihr über den Gang, raus in den Park. Scheinbar ohne jegliche Missgunst beantwortet er jede ihrer Fragen und zieht sie hinter sich her.
In seinen Reaktionen schwingt jedoch zunehmend ein unterschwelliges Widerstreben mit, die momentane Situation zu akzeptieren. Die Besuche im Heim seiner Mutter sind für ihn eine weit kompliziertere Angelegenheit, als es zuerst scheint. Finden sie doch für den Sohn jede Woche auf dieselbe Weise statt und werden zur wiederkehrenden Belastung, ohne Aussicht auf ein glückliches Ende. Es spricht eine Müdigkeit aus ihm, eine Erschöpfung, die über zu schwappen droht und die die Mutter nie erkennen wird. Momente der Inakzeptanz, das Erkennen darüber, dass sich Menschen, die einen das Leben über begleitet haben, an wirklich wichtige Momente nicht mehr erinnern können. Die Anstrengung, Disziplinierung und Anforderungen werden auf eine sehr lebensnahe und berührende Weise von diesem einen Schauspieler gelebt und geben dem Zuschauer einen tiefen Einblick in zerrissene Gefühlswelten.
Einmal verliert Andrej selbst die Beherrschung, als er merkt, dass sich die Mutter nicht mehr an seinen größten Erfolg als Schauspieler erinnern kann. Tatsächlich spricht die Mutter kaum über ihren Sohn, der doch jede Woche zu ihr kommt, verwechselt ihn gar mit dem Bruder. Dafür spricht sie von anderen Menschen, deren Verhältnis zur ihr nicht bekannt ist, die jedoch nicht ins Altenheim zu fahren scheinen. In diesem Moment merkt man, welche Missgunst über die mangelnde Dankbarkeit in ihrem Sohn schlummert und wie sehr es an ihm zehrt, ausschließlich oberflächliche und wiederkehrende Gespräche zu führen – Gefühle, die erst durch die Krankheit seiner Mutter in ihm aufgekommen sind.
Gegen Ende des Abends taucht man aus einer anderen Welt aus, man fühlt sich – trotz der ambivalenten Gedanken des Sohnes – wohlig und aufgehoben und hat für kurze Zeit in das Verhältnis zweier miteinander verwachsener Menschen Einblick bekommen.
Alice Buddeberg, die Regisseurin, und Andrej Kaminsky haben es geschafft, auf sanfte, aber ergreifende Weise diesen Abend zu gestalten. Kaminsky überzeugt in seiner Darstellung als gebrechliche und vergessende alte Frau, die das Publikum mit einigen ihrer Kommentare immer wieder zum Lächeln bringt. Mit wenigen Effekten schafft er eine den Raum einnehmende Atmosphäre. Menschen, die bereits Erfahrungen mit Demenzerkrankten haben, werden hier viele Anknüpfungspunkte zu selbst Erlebtem finden. Gleichzeitig ist der Schluss als eine Art Warnung zu verstehen, was mit der eigenen Persönlichkeit passieren kann, wenn die Familie einem zur Last wird. Wie zermürbend es ist, immer und immer wieder die gleichen Geschichten zu hören, die gleichen Sachen zu bestätigen und dabei trotzdem nur zu merken, dass es nicht besser sondern nur schlimmer wird.
An manchen Stellen hakt die Verbindung zwischen Autobiographie und Phantasie ein wenig. Es wird nicht ganz klar, wo die Mutter gelebt hat, wer eigentlich die anderen Personen alle sind, die immer wieder Erwähnung finden, aber nie wirklich vorgestellt werden – dennoch passt es zugleich zu dem Thema. Demenzkranke vergessen nicht nur, sondern die Erinnerungen vermischen sich auch. Im Gegensatz zur sterbenden Mutter hörte man während der Premiere im Hintergrund ab und an ein Baby brabbeln – ein ungewollter, aber in dieser Situation ein hervorragend kontrastierendes Pendant.
Es ist ein ruhiger, bewegender Abend, der auf alle Fälle dazu anregt, sich mit der Volkskrankheit Demenz näher zu beschäftigen. Dass man selbst einen Demenzfall in der Familie haben kann und wie man damit möglicherweise im schlechtesten Fall umgeht, wird in dieser Inszenierung jedenfalls facettenreich aufgezeigt.
Tabea Laufenberg & Rebecca Telöken