Bilder von uns

 

Eine Geschichte vom Verdrängen

Thomas Melles‘ Gegenwartsstück wird am Theater Bonn uraufgeführt

(Vorschaubild (c) Thilo Beu)

Jesko Drescher (Benjamin Grüter) ist ein überaus durchschnittlicher Allerweltsmann: mit vierzig hat er nicht nur eine gute Karriere hingelegt, sondern hat auch seine Frau Bettina (Mareike Hein) gefunden, zwei Kinder bekommen und gesellschaftliches Ansehen erlangt. Kurzum: er ist erfolgreich.

(c) Thilo Beu

Doch ein paar Bilder, die ihm zugespielt werden, bringen diese Fassade zum bröckeln. Es sind Bilder von früher, Bilder, die er lange schon verdrängt hatte und vergessen wollte. Es sind Bilder aus seiner Schulzeit, er selbst nackt, aufgenommen von einem Pater. Jesko versucht mit alten Schulkameraden über die Bilder zu sprechen, jedoch schränken Scham und das Verneinen der Opferrolle die Gespräche sehr ein. Malte (Hajo Tuschy), Jeskos ehemals bester Freund, erzählt von ihren gemeinsamen Klassenkameraden Matuschka, der in Amerika wegen Kinderpornographie verurteilt wurde. Die Misshandlung steht nun sowohl für den Protagonisten, als auch für den Zuschauer zum ersten Mal offen im Raum.

Man beschließt, mit dem Anwalt und Schulfreund Johannes (Holger Kraft) zu sprechen. Derweil spielt Jesko die Ereignisse für sich selbst immer weiter runter und versucht, zu seinem normalen Leben zurückzukehren, so wie es ihm von verschiedenen Seiten geraten wird. Es bringe schließlich nichts, in der Vergangenheit zu leben. Dieses Bemühen wird jedoch von anderen Seiten aus immer wieder aufgebrochen. Da ist beispielsweise die Erzieherin Sandra (Johanna Falckner), die beinahe von Jesko angefahren wird, als er eines der Fotos auf seinem Handy entdeckt. Sie sieht das Foto zufällig und hält ihn für pädophil, was ihn wiederum die Anzüglichkeit dieser Bilder überdenken lässt. Vielleicht war es ja doch nicht so harmlos, wie er immer dachte. Auch das schwarze Schaf unter den Schulkameraden, Konstatin (Benjamin Berger), bewirkt etwas in Jesko. Er hat die Ereignisse nie verarbeiten und überwinden können. Er und seine Freundin Katja (Lydia Stäubli) sind die Antagonisten, die den Missbrauch offen anprangern. Aber aus Jeskos Sicht kann man diese gescheiterte Existenz nicht als Maßstab aller Dinge nehmen.

Angeregt durch die Bilder beginnt sich das Quartett der ehemaligen Mitschüler, jeder für sich allein, mit den Geschehnissen und der eigenen Vergangenheit auseinander zu setzten. Man möchte sich nicht in der Opferrolle sehen, die Vergangenheit soll die Gegenwart nicht mehr beeinflussen. Das Ganze, sollte es denn wirklich etwas sein, darf nicht an die Öffentlichkeit kommen. Der Zweifel an der eigenen Wahrnehmung und der schmale Grat zwischen Realität, Einbildung und Verleumdung beginnt die Charaktere immer mehr zu verunsichern.

(c) Thilo Beu

Im Zuge dessen spitzen sich die Ereignisse zu. Obwohl Jesko redlich versucht, die Geschichte zu vergessen, gerät sein Leben völlig aus den Fugen und er fängt an, seine Frau zu betrügen. Derweil ist Malte völlig darauf fixiert, alles wieder aufzuwühlen, er hofft Gerechtigkeit zu erlangen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Konstantin kommt mit der Wirklichkeit partout nicht zurecht und als auch Drogen keine Linderung mehr verschaffen, nimmt er sich das Leben.

2010 wird der Missbrauchsskandal am Godesberger Aloisiuskolleg öffentlich – der Aufhänger dieses Gegenwartsstücks. Bilder von uns von Thomas Melle, szenisch realisiert durch Alice Buddeberg, das am 21. Januar auf der Werkstattbühne uraufgeführt wurde, beschreibt, wie eine solche Vergangenheit die Betroffenen wieder einholt bzw. einholen kann.. Obwohl Thomas Melle selbst das Kolleg besuchte und viele Fakten dieses Falls im Stück auftauchen, ist die Geschichte selbst reine Fiktion. Gezeigt wird hier vielmehr eine Fallstudie darüber, wie unterschiedliche Charaktere darauf reagieren, wenn sie ihre eigene (verdrängte) Vergangenheit völlig neu betrachten und bewerten müssen. Die Figuren stellen vier mögliche Reaktionen aus einer unendlichen Bandbreite dar. Jeder kann sich mehr oder weniger mit einer dieser Figuren identifizieren. Das macht es für den Zuschauer einfacher, sich selbst in eine solche Situation zu versetzen und so Gedanken zu diesem Thema neu entstehen zu lassen.

Der Diskurs findet live auf der Bühne statt, wodurch das Verhalten der Figuren sehr gut nachvollziehbar wird, besonders das Verdrängen. Das Bühnenbild mit ein paar Schulstühlen und vielen alten Dia- Projektoren bestückt, lässt „die Bilder“ in einem besonderen Rahmen wirken. Insgesamt war es ein sehr gelungener Abend, der viel Platz zum Nachdenken bietet und den Zuschauer motiviert, sich weiter mit einem so heiklen Thema zu beschäftigen. Die Leistung der Schauspieler ist durchweg hervorragend, wobei besonders Benjamin Grüter hervorzuheben ist, der einem die Figur des Jesko Drescher in all seinen Facetten und Nuancen unglaublich nahe bringt.

Katharina Wigger

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