Auf Monsterjagd

Bruno Hofmann inszeniert The Cabinet of Dr. Caligari im Stil der 20er

Kurz vor der Weihnachtspause zeigte die BUSC* in der Brotfabrik einen bekannten Stummfilmklassiker des deutschen Regisseurs Robert Wiene in englischer Sprache: The Cabinet of Dr. Caligari (1920).

Die Titelfigur ist ein Wissenschaftler, der seinen Patienten, einen Somnambulisten (Schlafwandler) namens Cesare, auf Jahrmärkten dem Publikum präsentiert. Cesare schläft seit 23 Jahren, erwacht aber auf Befehl des Doktors für kurze Zeit. Dann kann er, so Dr. Caligaris Versprechen, alle Fragen, die man ihm stellt, beantworten, ja, sogar die Zukunft vorhersagen. Dass etwas mit dem seltsamen Doktor mit dem italienisch klingendem Namen nicht stimmt, wird spätestens dann offenbar, als kurz nach seinem Erscheinen, nachts ein Mann ermordet wird, mit dem er zuvor zu tun gehabt hatte. Die Stichwunde, die in dessen linker Brust prangt, deutet auf einen Dolch hin.

Das Geschehen wird von einem jungen Mann namens Francis erzählt. Dessen bester Freund Alan ist zugleich sein Konkurrent in Liebesangelegenheiten, da die schöne Jane, in die beide verliebt sind, nur Augen für Alan hat. Dieser ist es auch, der Francis überredet, mit ihm zum Jahrmarkt zu gehen, wo sie Zeugen von Caligaris Show werden. Alan meldet sich, um dem Monster eine Frage zu stellen – was ihn geritten hat, zu erfragen, wie lange er leben wird, werden wir wohl nie erfahren, aber die Antwort Cesares ist eindeutig: „Till dawn tomorrow“. Und da Cesare nicht lügt, kommt die Nachricht von Alans Tod bei Jane an, kurz bevor Francis erscheint, um sie ihr zu überbringen.

Für Francis, der durch ein unbeholfenes und zeitlich sehr unpassendes Liebesbekenntnis nicht gerade in Janes Gunst steigt, ist es ein Anliegen, Alans Mörder verhaften zu lassen. Für ihn ist klar, dass – es niemand anderes als Dr. Caligaris Monster gewesen sein kann. Eine wilde Jagd nach Caligari und seinem zwischendurch ausgebüchsten Monster beginnt. Jane wird entführt und am Ende tritt eine überraschende Wende ein: Nicht der Doktor ist es, der wahnsinnig ist, sondern Francis. Er ist Patient einer Irrenanstalt und hat sich alles zusammenfantasiert. Sein behandelnder Arzt wird so zum Verbrecher und seine „Mitgefangenen“ zu Freunden, Polizisten und zur Geliebten.

Bürokratie spielt bei der Frage von Wahn auch immer eine wichtige Rolle (s. Kafka). Ein Blick auf die Uhr schadet da sicher nicht. Foto: (c) Alina Johnson

Die Handlung und Anzahl der Rollen unterscheidet sich in der Fassung der BUSC etwas von der Vorlage, wenn auch die Kerngeschichte identisch bleibt. Robert Wienes expressionistischer Stummfilm findet seine Entsprechung auf der Bühne der Brotfabrik. Hier haben sich die fleißigen und kreativen Menschen hinter der Bühne – alle Mühe gegeben, eine unheimlich verzerrte Welt, die dem Filmset nahe kommt, zu erschaffen. Nichts ist hier „normal“: Die Stühle haben zu hohe Lehnen und zu kurze Beine, die Fenster sind verdreht, die Lampen verbogen und selbst das Mordwerkzeug hat keine gerade Klinge, sondern ist blitzartig gezackt. Da macht schon das Bühnenbild den Zuschauern Freude.

Jan-Hendrick Schrötter spielt den Dr. Caligari galant, schmeichlerisch und weniger unheimlich-griesgrämig als das filmische Original. Dadurch erhält er eine zweideutige Persönlichkeit, der man fast seine Unschuld an den Taten abkauft. Das berühmte Zitat „I must become Caligari“ brannte sich den Zuschauern sicherlich ins Gedächtnis.

Großartig umgesetzt hat Michael Bareev-Rudy die Rolle des Cesare. Wie hart gewordenes Wachs ist seine Mimik, die weder Gedanken noch Gefühle preis gibt, aber stellt man ihm eine Frage, bewegt er sich wie eine Schlange und starrt den Fragestellern bis in die Seele, so dass der Dolch, mit dem er nachts Menschen ermordet, dagegen fast harmlos wirkt.

Alexander Korsten als Francis spielt den smarten jungen Mann, der keinen Erfolg bei seiner Angebeteten hat, überzeugend, obwohl er den späteren Patienten Francis fast etwas zu heftig dem Wahn verfallen lässt. Wobei – wer möchte schon in eine Zwangsjacke gesteckt werden?

Lisa Balzer war zuletzt in der Hauptrolle der Lady Macbeth zu sehen. Als Jane zeigt sie eine gute Bühnenpräsenz und spielt ihre Rolle glatt herunter. Tobias Holle als Alan scheint sich seine Filmvorlage gut angesehen zu haben, denn er hat den für Stummfilmdarsteller*innen typischen starken mimischen Ausdruck auf der Bühne gut angewandt.

Die Eltern von Jane, Mr Werner (Bruno Kaut) und Mrs Werner (Nicole Masmanns), waren die moralische Instanz. So unterstützt Kaut Francis bei der Monsterjagd, nachdem seine Tochter entführt wurde. Den großen Auftritt hat aber Masmanns mit einem Monolog, in dem bereits durchscheint, dass viele der handelnden Personen nicht ganz so normal sind, wie sie auf den ersten Blick scheinen. In ihrer ruhigen und beherrschten Art lotet sie gut die schmale Grenze zwischen Realität und Wahn aus und erzählt zudem, welche Umstände dazu führen können, dass Leute den Verstand verlieren können, etwa durch traumatische Erlebnisse. Diese Momente gehen dann auch nah.

Konstantin Rasanis, der zuletzt in der Hauptrolle des Macbeth zu sehen war, ist in der Nebenrolle von Janes Bruder zu sehen. Hier darf er sich schauspielerisch austoben, wild und ungestüm sein, was ihm sichtbar Spaß gemachte. Lineke Bösing trat gleich zweimal in Erscheinung, zum einen als Einradfahrerin im Kreis der Schausteller und zum anderen als Elaine, die Freundin von Jane, die mit ihr zusammen den Jahrmarkt besucht.

Nicht unbedingt die besten Freunde: Polizei und Presse. Foto: (c) Alina Johnson

Neue Rollen, die positiv durch ihren Witz aufgefallen sind, waren:
Elen Carbonari und Hanna Schaefer als Papergirl 1 und 2. Die Chemie zwischen den Schauspielerinnen stimmte und man freute sich als Publikum, wenn beide erschienen, denn ihre Kabbeleien darum, wer mehr Zeitungen durch mehr oder minder richtige Neuigkeiten verkauft, waren sehr gut einstudiert. Lisa Pohlers Inspector war erfrischend energisch, manchmal vielleicht etwas sehr laut, zugleich gelang ihr der Wechsel zwischen dem selbstbewussten Hüter des Gesetzes und einer gebrochenen Gestalt in der Anstalt, die von inneren Stimmen in den Wahnsinn getrieben wurde. Eine ebenfalls unerwartet einprägsame Rolle übernahm Sepideh Tafazzoli als Reinigungskraft, die den vollen Durchblick in der Anstalt hatte und Francis in seiner Vorstellung hilft, aus der Anstalt zu entkommen, als der Direktor ihn dort einsperren möchte.

In weiteren Rollen, die zum Teil zwar nur kürzere Auftritte hatten, diese aber mit der nötigen schauspielerischen Energie rüberbrachten, waren zu sehen: Greta Bittmann als desinteressierter Officer Grün, Anastasia Eichner als eingebildete Krankenschwester, Izzy Langner als gut gelaunter Officer Boltz, Karen Pfeiffer und Anna Ruffing als pflichtversessene Clerk 1 und 2 sowie Nikesh Trecarten als Stadtsekretär mit einer ausgefallenen Kopfbedeckung, die man nicht alle Tage auf der Bühne sieht: einen auf eine Melone drapierten Wetterhahn. Die letztgenannten drei verkörpern übrigens die über alles herrschende Bürokratie – so ist daher sitzt Trecarten auf einem besonders hohen Platz und erlaubt sich, dem Anliegen des Caligari lange kein Gehör zu schenken, so wie  Francis auch zuerst bei der Polizei abblitzt. Das erinnert stark an Kafkas Romane, in denen die staatlichen Organe weder Hilfe noch Sicherheit bieten, vielmehr das Gegenteil.

Sehr schön auch das breite Spektrum an Jahrmarktsdarsteller*innen, das dazu dazu beitrug, ein lebendiges Bühnenbild mit viel Bewegung zu schaffen. Lisa Geierhaas erschien als Poi Juggler, Thalles Macedo war ein Acrobat, Cynthia Ohliger mimte eine Magierin, Nina Hattrup verkaufte gelbe und rote Rosen mit tragender Bedeutung und Leilani Basu-Weidner begnügte sich damit, Zuschauerin zu sein, aber die braucht es auf Jahrmärkten halt auch.

Wie bereits oben angemerkt, hat Regisseur Bruno Hofmann in seiner Inszenierung kleine Änderungen vorgenommen. Besonders die drei Monologe einzelner Personen aus der Anstalt, geben der Geschichte einen sozialen und emotionalen Zuwachs, der den mittlerweile natürlich veralteten Horroreffekt und die Frage nach dem, was Wahn und was Wirklichkeit ist, auf eine gegenwärtige Aktualität hebt, nämlich die Frage, wann die Psyche des Menschen an ihre Grenzen kommt. So kann man sagen, dass nüchtern betrachtet, Francis ausgedachte Albtraumgeschichte weniger grausam ist als die Realität, in der er, seiner Freiheit und Menschlichkeit beraubt, am Ende erwacht. Weiterhin hat Hofmann durch kleine Details wie ein Menschenlabyrinth, das Francis daran hindert, den fliehenden Caligari zu stellen und die passende Auswahl an musikalischer Untermalung dafür gesorgt, dass sich ein rundum gelungener Abend zusammenfügte. Die gute Inszenierung hatte sich wohl seit der Premiere herumgesprochen, denn auch bei der bereits vierten von sechs Vorstellungen war der Zuschauerraum so gut wie ausverkauft. Eine Wiederaufnahme wäre wünschenswert.

Rebecca Telöken

* BUSC: Bonn University Shakespeare Company