IN LUFTIGEN HÖHEN

DIE GONDEL – EIN STÜCK VON TIM KROPP

Auf der Bühne der Brotfabrik gab es nach dem Großaufgebot an Schauspielern und Staff, das zuletzt durch die Dauertheatersendung mit Hamlet dargeboten wurde, in der vergangenen Woche nun wie zum Kontrast ein minimalistisches, humorvoll-kritisches Kammerstück des Theater Rampös. „Kammerstück“ passte in jeder Hinsicht. Nicht nur wegen des kleines Stabs von nur drei Schauspielern, sondern auch wegen des Spielorts: Einer Seilbahngondel.

Was im Vorabendprogramm ein Fall für die Bergretter wäre, ist für den Autor Tim Kropp der ideale Schauplatz, um die Beziehungsprobleme einer dreiköpfigen Familie, bestehend aus Vater Stefan (Jan-Hendrik Schrötter), Mutter Johanna (Simone Nowotny) und dem namenlosen 12-jährigen Sohn (Antonio Fileti), geradezu unter Laborbedingungen auseinanderzunehmen und zu beleuchten.

Zu Beginn knarzt und rattert es leise aus den Lautsprechern des Bühnenraums. Auf der Bühne stehen einsam drei Holzbänke auf einem Podest, weiße Folie auf dem Boden deutet Schnee an. Mehr braucht es nicht, um eine Gondel darzustellen, jeder im Zuschauerraum ist sofort im Bilde. Doch das anfängliche Bergidyll ist trügerisch und von kurzer Dauer. Kaum hat die kleine Familie in voller Skimontur die Kabine betreten und sich dort niedergelassen, gibt es auf der Strecke, hoch über den grünen Tannenwipfeln einen heftigen Ruck. Anfangs hofft man noch auf eine kleine Unterbrechung, doch als eine Lautsprecherdurchsage erklingt, deren Sprecher auch mit ihren Namen sehr an zwei bayrische Serienpolizisten erinnern (so heißt der Kollege, der den technischen Defekt reparieren soll „Hubert“), wird ziemlich schnell klar, dass ein längerer Aufenthalt in der Gondel ansteht. Aber kein Grund, in Panik zu geraten, sondern erst einmal ein schöner Anlass, sich über das menschliche Versagen aufzuregen.

Der Filius hat immer Hunger – aber Eierschalen auf dem Boden bringen Mutter Johanna auf die Palme. Foto: (c) Andreas Wichmann

Doch es dauert nicht lange und die Sticheleien und Streitereien zwischen den Eltern, Stefan und Johanna, beginnen – aus nichtigem Anlass – erst über das fragwürdige Wort „Autonomie-Unterstützung“, dann über auf den Boden achtlos hingeschmissene Eierschalen, über die mangelnde Körperhygiene des Nachwuchses, Yogakurse, Behindertenausweise … Kein Satz, kein Wort ist unwichtig genug, um nicht aufgespießt und seziert zu werden, um sich dann damit verbal zu beschmeißen. Dabei entstehen immer wieder neue Bündnisse; Vater und Mutter gegen den Sohn, Sohn und Vater gegen die Mutter, Mutter und Sohn gegen den Vater. Jeder kriegt sein Fett weg, denn das Problem an Familie ist, dass man sich – mit allen Schwächen und wunden Punkten – am besten kennt und immer glaubt, eine Rechnung offen zu haben.

Neben alltäglichen Banalitäten, wie dem eingeschlafenen Sexleben, geraten auch ernste Themen in den Fokus. Simone Nowotny hat als Mutter Johanna ihren großen Auftritt, als sie leidenschaftlich und mit sichtlichem Frust ein flammendes Plädoyer gegen eine von männlichen Befindlichkeiten definierte Mutterrolle hält. Selbst der moderne Mann nehme die männliche Verunsicherung über seine veränderte Rolle wieder nur zum Anlass, die Frau allein in die Erziehungs-Verantwortung zu manövrieren.

Stefan hat nur partiell Verständnis für die Kritikpunkte seiner Frau.
Foto: (c) Andreas Wichmann

Aber auch die unterschiedlichen Vorstellungen über Erziehung sind ein willkommenes Streitthema – denn wie man es macht, macht man es verkehrt. Wenn der Sohn auf Stefans geistreich-leere Erziehungsweisheiten, wie „Man muss im Werkzeugkasten der Erziehung erst die richtige Methode finden“ trocken-sarkastisch antwortet: „Ich habe nicht das Gefühl, dass du lange gesucht hast“, bringt dies das Publikum herzlich zum Lachen, lässt es zugleich aber auch nachdenklich werden. Hier liegt die große Stärke des Stückes, das unweigerlich zur Selbstreflexion verleitet, anstatt dem Geschehen nur beizuwohnen. Schrötter und Fileti spielen die angesichts der energischen und auch etwas über-engagierten Mutter eher zurückhaltenden Männer mit einem trockenen Witz und Schalk im Nacken, was sehr gut beim Publikum ankommt.

Regisseurin Katrin Schüring hat bei den Wortwechseln ein sicheres Gespür für Timing, das A und O im Bereich des Humors, lässt aber im Kontrast dazu in einer Szene auch zu, dass ihre drei Darsteller erschöpft vom Streiten in einem beklemmenden Schweigen verharren.

Nach zwei Stunden Wortgefechten kann man jedoch der Aussage des Sohnes schließlich durchaus zustimmen: „Wenn ihr redet, ist es anstrengend.“ Daher macht sich nicht nur in der eingesperrten Familie, sondern auch im Publikum Erleichterung breit, wenn die bayrische Frohnatur (Stimme: Volker Büdts) verkündet, dass die Fahrt endlich weitergehen kann.

Angesichts der vielen Baustellen, die von dieser Familie ausgegraben und bearbeitet werden, ist es zum Schluss fast befremdlich, dass es dennoch ein Happy End gibt. Trotz aller unerreichten Ideale, trotz aller Unzufriedenheit mit dem Familienleben liegen sich die drei, nachdem sie sich schonungslos Fehler und Schwächen um die Ohren gehauen haben, doch glücklich zu Imagine von John Lennon in den Armen. Hat am Ende die Liebe in der Familie gesiegt? Oder ist man erleichtert, dass man nicht in die Abgründe, die sich unter einem aufgetan haben, hineingestürzt ist? Es scheint, als brächten Konfrontationen einander oft näher als man sich im ersten Moment vorstellen kann und das auf ungemein unterhaltsame Weise, wie der kräftige Applaus am Ende noch einmal bestätigte.

Rebecca Telöken

Versöhnliches Händchen halten oder nur die Ruhe vor dem Sturm?
Foto: (c) Andreas Wichmann