Die Dauertheatersendung zeigt Hamlet in der Brotfabrik
Wenn die Frankfurter Buchmesse ihre Tore für die literarisch interessierte Welt öffnet, bringen die meisten Tageszeitungen eine spezielle Literaturbeilage heraus, in der aus Sicht der Kritiker auf besondere Publikationen des Jahres hingewiesen wird. In der aktuellen Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) beherrscht das Thema Literatur auch das beiliegende großformatige Hochglanzmagazin (Oktober-Ausgabe 2024). Darin findet sich ein Artikel über die Vorstellung der First-Folio-Ausgabe der shakespeare’schen Stücke auf der Frankfurter Buchmesse vor 400 Jahren. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die FAS diesem Ereignis einen eigenen Artikel widmet, denn bis heute zählen die Werke Shakespeare zu den meistgespielten der westlichen Welt, erfreuen sich aber auch zahlreicher Aufführungen, Interpretationen und Adaptionen in der übrigen.
Was Shakespeares Stücke so zeitlos macht, ist ihr breites Themenspektrum, sind die vielschichtigen Charaktere und das Zusammenspiel von tragischen und komödiantischen Elementen, dazu die unglaubliche Sprachgewandtheit seiner Texte, die sich in manchen der viel zitierten Monologe und Dialoge finden lässt. Kurz: Shakespeare ist der Klassiker, was die Inszenierung seiner Stücke jeden Regisseur vor eine gewisse Herausforderung stellt. Zuletzt hat Sandra Hüller sich in Bochum mit ihrer Hamlet-Darstellung in das Gedächtnis der Aufführungen gespielt.

„Hamlet“ – neben „Romeo und Julia“ und „Macbeth“ das wahrscheinlich bekannteste Shakespeare-Stück – wurde nun von der „Dauertheatersendung“ in der Brotfabrik aufgeführt. Die Regie hatten Tobias Gülich und Xenia Zoller inne. Insgesamt 18 Schauspieler*innen wirkten an dem Mammutprojekt mit, dazu war noch ein gutes Dutzend hinter der Bühne im Einsatz.
Doch wie geht man an ein Stück mit einer solchen Aufführungsgeschichte heran? Modern oder traditionell? Behält man den Text Wilhelm Schlegels bei, den so viele im Ohr haben, oder versucht man sich an neuen Übersetzungen? Spielt man alles oder kürzt man?
Eins gleich vorweg: Das Regieduo hat sich für eine Kürzung der Texte entschieden, die in Anbetracht der zum Teil erheblichen Textmengen wohl andernfalls für den engagiertesten Laiendarsteller durchaus zu einer Überforderung geführt hätten. So kam die Inszenierung auf gute zwei Stunden mit einer Pause. Und zum Rest? Man entschied sich, den schlegelschen Text beizubehalten – wobei dadurch die besondere Herausforderung auf dem richtigen Sprechrhythmus und der Artikulation lag, um die für heutige Ohren eher ungewohnte künstliche Sprechweise nachvollziehbar zu machen. Auch in den Kostümen zeigte man sich eher traditionell: Die meisten Spieler*innen trugen mittelalterlich anmutende Kleidung wie Rüstungen oder knöchellange Kleider. Nur Hamlet machte einen gewissen Zeitsprung: Mit langem schwarzen Mantel und goldener Doppelknopfreihe erinnerte er an Napoleon , trug dazu ein großes Schwert als Zeichen seines adligen Geblüts stets bei sich.
Die Bühne selbst barg charmante Leere – große Vorhänge verwiesen auf den Platz im Schloss, davor floss der Styx gleich toter Erde auf einen abgestorbenen Baum zu, an dessen Wurzeln der berühmte Schädel Yoricks bereits auf seinen Einsatz wartete.
Was die Zuschauer die nächsten zwei Stunden dargeboten bekamen, war Laientheater von seiner besten Seite. Zuerst soll die schöne Regie-Idee gleich zu Beginn des Dramas Erwähnung finden. Dort sieht man den alten König (Stefan Weicht), Hamlets Vater, ein Gespenst, allein die Mauern auf und ab schreitend. Als die Wachen Marcellus (Paule Hellmann), Bernardo (Yang Fang) und Horatio (Lukas von Maltitz) des Gespenstes ansichtig werden, holen sie ihren Herrn Hamlet, damit er sich das schaurige Phänomen selbst ansieht. In dieser Zeit vermehren sich plötzlich die Schatten. Nur den Umrissen nach als Menschen, genauer gesagt an den gekrönten Häuptern als ehemalige Könige erkennbar, bildeten sie einen Leichenzug der Ahnen. Der Tod des dänischen Königshauses tanzt hier bereits seinen Totentanz. Solche kleinen Ideen verliehen der Inszenierung den nötigen Pfiff.
Doch jede gute Regieidee trägt nur dann, wenn das Spiel dazu stimmt. Zum Glück hat die Dauertheatersendung mit Konstantin Rasanis einen leidenschaftlichen Hamlet gefunden, der die hundert Gesichter des Prinzen von Dänemark, der das Andenken seines Vaters rächen möchte und dabei nicht nur sich, sondern auch die Familie seiner Geliebten Ophelia ins Verhängnis stürzt, in allen Facetten zeigt. Von Traurigkeit, Raserei und falschem Wahn gezeichnet, sieht man dem Schauspieler am Ende an, was diese Rolle seinem Träger alles abverlangt.
Liebling des Publikums war sicherlich aber Tamer Afifi, der Polonius, den Vater der Ophelia und Vertrauten des Königs, Hamlets Onkel, mimte. Und wie! Selten ist der alte Polonius so komisch dargestellt worden. Dank ständig quälender Rückenprobleme, die zwar so im Original nicht erwähnt sind, jedoch wunderbar zu diesem eher ängstlich und jammernden Charakter passen, hatte das Publikum nicht nur in den wortwitzreichen Dialogen zwischen ihm und Hamlet ihren Spaß, sondern auch noch, als Polonius unter das Bett der Königin Gertrude (Esther Takats) kriechen muss, um das Gespräch zwischen Hamlet und ihr zu belauschen – ein Rückenkiller der Güteklasse. Esther Takats und Konstantin Rasanis zeigen zudem die emotional stärkste Szene, wenn Mutter und Sohn sich entzweien, da keiner dem anderen vertrauen oder verzeihen kann.

Die Kürzungen, die Gülich und Zoller vorgenommen haben, haben natürlich Auswirkungen auf die Darstellung des Hamlets. So scheiden sich seit jeher die Geister, bis wohin Hamlets Wahn gespielt ist und ob bzw. wann dieser Wahn dann tatsächlich Besitz von ihm ergreift. Gülich und Zoller haben sich für einen durchweg rationalen Hamlet entschieden, der den Wahn nur vorgibt.Dies lässt ihn in seinem Handeln umso grausamer erscheinen , wenn er Ophelias Vater ermordet oder Rosenkranz und Güldenstern in den Tod schickt. Der Hass, der seiner Trauer entwächst, scheint sich seiner vollkommen zu bemächtigen, nur kurz unterbrochen beim Anblick von Ophelias Leiche, die sich aus Kummer über den Tod des Vaters durch Hamlets Hand ertränkt hat. Nicole Mohrmann als Ophelia wirkt in den ersten Auftritten noch etwas steif, jedoch überzeugt sie in der Darstellung der nun wirklich des Verstandes beraubten Tochter, die traurige Lieder singt und wie ein Kind Blumen verschenkt. Michael Lüttgen als Ophelias Bruder Laertes bringt die Heißblütigkeit und den Zorn, den er gegen Hamlet hegt, weil dieser ihn des Vaters und der Schwester beraubt hat, mit einer Energie auf der Bühne, dass man froh ist, dass beim anschließenden Duell der beiden die Schwerter nicht aus Stahl sind.
Um noch einmal auf die Textkürzungen sprechen zu kommen, so haben diese natürlich auch ihre Tücken. Bestimmte Charakterzüge einiger Figuren kommen nicht ganz zum Tragen, beispielsweise die des Königs Claudius (Ulrich Papenkort). Was meint die Autorin damit? Papenkort verkörperte, klammert man das Wissen um den gewaltsamen Tod seines Bruders einmal aus, einen fast schon überaus freundlichen König. Von seinen Intrigen und Ängsten gegenüber seinem Neffen Hamlet erfährt der Zuschauer nur recht wenig bzw. erst spät.
Auch manche Handlung wurde erst durch spätere textliche Nacherzählungen verständlich (wenn man das Stück nicht bereits gut kennt). Das ist kein schlimmes Manko, irritierte nur manchmal. Besonders kurz geriet das Endduell zwischen Laertes und Hamlet, was etwas bedauerlich war, da das Stück auf diese Weise ein etwas zu abruptes Ende erfuhr, zwar frei von Pathos, aber ebenfalls frei von der Möglichkeit, sich noch einmal auf die überstürzenden Ereignisse zu besinnen.
Bei allen kleineren Kritikpunkten ist die Inszenierung insgesamt durchweg gelungen , getragen von vielen talentierten und mit Herz spielenden Schauspieler*innen, die hier im Text nicht alle Erwähnung finden können, doch wesentlich zum Gelingen der Aufführung beigetragen haben, wie etwa der lakonisch-bissige Totengräber (Maximilian Tücks).
Am Ende haben wir eine mögliche Interpretation des Hamlet-Stoffes gesehen, jetzt regt sich vielleicht beim ein oder anderen wieder die Lust, in den Originaltext reinzulesen, um den Facettenreichtum der shakespeare’schen Figuren neu zu entdecken. Dazu braucht es ja nicht unbedingt die First-Folioausgabe, es reicht auch das Reclam-Heft.
Rebecca Telöken
