Eine Bürgermeisterwahl im Osten Deutschlands als Gesellschaftsparabel
Eine riesige Deutschlandfahne beherrscht, ja, erschlägt geradezu die Bühne der Werkstatt an diesem Halloween-Abend und löst sicher bei dem ein oder anderen Zuschauer einen kleinen Schauer aus, denn wo so prominent die Fahne gezeigt wird, löst das bei Vielen Assoziationen an nationalistische Einstellungen aus.
Weniger Grusel als kleine Schmunzler auslösend, sitzt Techniker Sascha (Christian Freund) bereits beim Einlass des Publikums an einem mit Lebensmittelverpackungen zugemüllten Tisch und stopft genüsslich Snacks in sich hinein. Punkt 20 Uhr – die Vorstellung beginnt – verlässt er die Bühne und es betritt die Reinigungskraft Olli (Ursula Grossenbacher) die Bühne, die eigentlich bereits Feierabend hätte und sich jetzt unter vielen Flüchen gezwungen sieht, noch klar Schiff zu machen. Nicht aus Ordnungsliebe von Berufs wegen, sondern weil die gestresste „Abendleitung“ (Lena Geyer) schockiert feststellt, dass für den großen Schlagabtausch zwischen den beiden Bürgermeisterkandidaten noch nichts vorbereitet ist, obwohl es schon in wenigen Stunden losgehen soll.
Wir nähern uns nun dem Kern des Abends: Einer Diskussion zwischen zwei Bürgermeisterkandidaten irgendwo in Deutschland kurz vor den Kommunalwahlen. Nicht ganz irgendwo, sondern, wie bald klar wird, im Osten Deutschlands. Es treten an der gut gelaunte Bernd (Paul Langemann) und „Samuel W.“. Letzterer macht sich rar, will heißen, entweder sucht man ihn oder er ist gerade nicht zu sprechen – auch nicht für das erwartungsvolle Publikum. So bleibt Samuel für den gesamten Abend ein Name ohne Gesicht, dennoch wird gerade er es sein, über den an diesem Theaterabend am meisten gesprochen werden wird. Denn Samuel vertritt eine Partei, die er selbst ist und die, ohne dass man lange raten müsste, die AfD darstellen soll.
Der Kandidat Bernd sieht sich nun mit einer Reihe Problemen konfrontiert, denn es ist ein offenes Geheimnis, dass die Bürger den charismatischen „Samuel W“. klar bevorzugen. Selbst Bernds eigene Parteikollegen sehen es als unproblematisch an, wenn Bernd die Wahl verlöre, man könnte dann besser in der Opposition etwas bewirken. Ist das schon alles an Idealen, die seine Partei vertritt?
Anfangs ist Bernds Wille zum Widerstand noch groß, eindringlich stellt er dem Publikum immer wieder wie auf einer Schnur aufgereihte Fragen: „Wovor haben wir Angst? Haben Sie eine Vision von der Zukunft? Was will Samuel W.?“
Aber zunehmend fühlt sich Bernd von allen Seiten in die Enge getrieben und zweifelt, ob es überhaupt eine gute Idee ist, noch gegen Samuel anzutreten, denn: „Wenn die Gesellschaft ihren eigenen Untergang wählt, was kann ich dagegensetzen?“ Nicht unbedingt die Worte eines Weltretters und was ist nun mit diesem „Samuel W.“?

DAS BEISPIELHAFTE LEBEN DES SAMUEL W.: Der Stücktitel macht schon deutlich, wie Autor Lukas Ritzschel an die Figur des Samuel herangeht. Natürlich ist er nicht nach einem der realen Politiker der AfD modelliert, sondern er ist die Schablone eines „typischen“ AfD-Politikers. „Samuel W.“ kommt aus einer mittelständischen Familie, die sicherlich keine Gewinnerin des Mauerfalls war, die miterlebt hat, wie auch in ihrer Nachbarschaft immer mehr Menschen aus ihren Jobs geworfen wurden, mit anderen Worten: Wendeverlierer. Zitat der Reinigungskraft Olli: „Frührentner war irgendwie jeder.“
In seiner Pubertät infiziert sich Samuel W. mit rechtem Gedankengut, als er in den Westen geht, wird er dort wegen seines Ossi-Dialekts aufgezogen; er wird Polizist. Später will er ein ganzes Land unter der Prämisse „mehr Freiheit für das Volk“ – bei gleichzeitiger Diskriminierung bis Terrorisierung migrantischer Bürger – ausrichten. Er schließt sich einer Partei an, in der er innerhalb kürzester Zeit zu deren Zugpferd aufsteigt – und so Anerkennung erhält.
Es ist ein Lebenslauf, wie man ihn von einem AfD-Politiker erwartet, aber wenn man sich die Lebensläufe der heutigen Parteimitglieder der AfD ansieht, wird man schnell feststellen, dass die meisten ein Studium mit oder ohne vorherige Lehre abgeschlossen haben und viele gar nicht aus der ehemaligen DDR kommen, sondern aus dem Westen stammen. Ist Samuel W. also wirklich eine gute Schablone? Oder ist er nur eine stereotype Imagination, die viele von denjenigen Menschen haben, die in eine Partei wie die AfD eintreten? Genau diesen Effekt will Autor Lukas Ritzschel erzeugen, wie er in einem Interview, das sich im Programmheft nachlesen lässt, verrät. Er betont, „dass es keine Zwangsläufigkeiten in Biografien gibt. […] Das Stück bietet den Fallstrick, zu glauben, man müsse eine Biographie verstehen, um die Partei zu verstehen. Die Probleme sind jedoch struktureller Art.“
Regisseur Max Immendorf hat Ritzschels Stück für Bonn in eine Bühnenfassung gebracht. Die anfangs aufgeräumte Bühne verwandelt sich nach und nach in eine bedrohlich schwarze, Einsamkeit ausstrahlende Kistenlandschaft (Bühnenbild: Valentin Baumeister). Besonders trostlos wirkt sie, wenn Bernd Braun sich im Kostüm des DDR-Sandmännchens verloren zwischen den Kisten bewegt und zwischen Sarkasmus und Müdigkeit fragt: „Wann hat es angefangen, dass der Staat mich wie einen Bittsteller behandelt?“ Ritzschel hat einige Interviews mit Menschen in den neuen Bundesländern geführt. Dass manche Aussagen im Stück aus diesen Interviews stammen, wird möglicherweise an dieser Stelle besonders deutlich, wo der Frust aus jedem Wort trieft und sich ins Gedächtnis brennt.
Neben den düsteren gibt es aber auch satirische Szenen, wie ein Gespräch zwischen zwei Büroangestellten, die wohl im Dienste der Partei von Samuel W. stehen (Christoph Gummert und Lena Geyer). Sie in einem grellgelben 80er-Jahre Kostüm mit übertriebenen Schulterpolstern und einer Topffrisur, er mit Vokuhila, Hornbrille und Schlips, mechanisch Dokumente stempelnd, die sie in einem im Tisch eingebauten Reißwolf vernichten. Sie wirken wie der Vorwendezeit entsprungen (Kostüme: Maria Strauch). Während ihrer stakkatoartigen Unterhaltung, sie stets lächelnd, er immer schlecht gelaunt, wird deutlich, dass die beiden solche sind, die stets auf der Seite desjenigen stehen, der die größten Siegeschancen hat und „sie“ wusste sowieso schon immer, dass dieser charismatische Samuel W. es sicher zu etwas Großem bringen wird und man sich mit dem gut stellen sollte. Gespräche, die den Schauer vom Stückbeginn zurückbringen.
Der Abend ist gespickt von unglaublich vielen Kostümwechseln, die die sechs Schauspieler*innen auch benötigen, um die Darstellung der nicht unerhebliche Zahl von Augenzeugen des Samuel W.s zu bewerkstelligen. Durch die vielen Auf- und Abgänge erhält das Stück einiges an Dynamik, die Figuren dadurch aber natürlich, wie auch Samuel W. auch eher einen Beispielcharakter als Tiefe. Zuguterletzt gibt es noch eine Überraschung, die hier nicht verraten werden soll, die aber klug erdacht ist und Züge von Vorkommnissen und Debatten aus dem Umfeld der jüngsten Wahlen trägt.
Der Abend ist kurzweilig, er betont vor allem die gesellschaftlichen Entwicklungen nach dem Mauerfall aus ostdeutscher Perspektive, er führt die Zuschauer durch den abwesend omnipräsenten Samuel W. in die Irre und schneidet darüber hinaus noch viele weitere Themen der letzten 20 Jahre (Euro-Rettung, Flüchtlingskrise, Energieverteuerung etc.) an, die vielfach Unverständnis und Politikverdruss ausgelöst haben. Es ist ein weitestgehend ruhiger Abend, der aber eine unterschwellige Bedrohung heraufbeschwört und den man am Ende mit einem unguten Gefühl verlässt.
Rebecca Telöken

