Wer tötete Klytaimnestra?

Moving Targets bringen die Orestie in der Bearbeitung von Robert Icke
in der Brotfabrik auf die Bühne

Moving Targets stehen für moderne englischsprachige Stücke, die auch von Laien aufgeführt werden können. Dabei bleibt der Anspruch jedoch nicht auf der Strecke. Unter anderem waren sie mit CRIMES OF THE HEART im vergangenen Jahr in der Brotfabrik zu sehen. Im Mai wurde nun ebendort das antike Drama ORESTEIA in einer Bearbeitung von Robert Icke zu aufgeführt.
2015 war die Uraufführung von Ickes Interpretation u. a. im Almeida Theatre in London, wo zwei Jahre später auch seine Inszenierung von Hamlet mit Andrew Scott gezeigt wurde.
In Deutschland wurde das Stück 2018 in Stuttgart uraufgeführt. Der deutsche Text ist beim Rowohlt Theater Verlag erschienen.

Agamemnons Familie : v. l. n. r. Iphigenie, Klythaimnestra und Orestes Foto: (c) Bastian Flassig

Icke geht in der Oresteia behutsam mit dem Original-Stoff um, verändert nur Kleinigkeiten um dem Ganzen eine neuen Anstrich zu verpassen. So gibt er der Handlung einen modernen Rahmen, welcher auf dem Sofa einer psychiatrischen Praxis seinen Anfang nimmt. Eine freundliche Dame – die Psychiaterin (Tinka Albracht) – unterhält sich mit einem jungen Mann, Orestes (Bruno Kaut), der unter einem Trauma zu leiden scheint. In seiner Familie gab es eine schreckliche Tragödie, bei der er Zeuge war, doch er kann sich an den genauen Hergang einfach nicht mehr erinnern. Fest steht: Alle sind tot, nur er hat überlebt.

Das Opfer wurde vollzogen. Iphigenie, Agamemnon und Menelaos. Foto: (c) Bastian Flassig


Mit etwas gutem Zureden kommen jedoch nach und nach alle verhängnisvollen Details zum Vorschein. Sie hätte eine Bilderbuchfamilie sein können: Orestes mit seinen beiden Schwestern Elektra (Lisa Pohlers) und Iphigenie (Hanna Schäfer) sind ganzer Stolz und zugleich großes Kümmernis des Königs Agamemnon (Tamer Afifi), der mit Troja im Krieg liegt, weil sein Bruder Menelaos (Ruben Fuchs) sich einst Helena hat stehlen lassen. Der Krieg dauert nun schon Jahre und die Athener Bevölkerung wird langsam ungeduldig. Interviewanfragen werden nur widerwillig beantwortet, der Druck steigt. Da tut sich eine rettende Lösung auf. Der Seher Calchas (Marc Erlhöfer) eröffnet Agamemnon einen Ausweg: Durch den Opfertod seiner jüngsten Tochter, ein völlig unschuldiges Mädchen, das Vegetarierin ist und noch sehr kindlich wirkt, kann der Krieg gewonnen werden. Agamemnon ist anfangs entsetzt, doch zusammen überzeugen Calchas und Menelaos den König, dass der Tod eines einzelnen Menschen das Leben tausender vor Vergewaltigung, Versklavung und Tod retten könnte. Das Opfer müsse natürlich zwar plötzlicher aber natürlicher Tod dargestellt werden, die Bevölkerung solle im Dunkeln bleiben, damit sich keine Opportunisten erheben. Eingeweiht wird nur Iphigenies Mutter Klytaimnestra (Esther Takats), die sich vehement gegen diesen Plan sträubt, ihn aber zuletzt tatenlos geschehen lässt oder lassen muss.
Der Krieg wird kurz darauf tatsächlich gewonnen, dafür beginnt jetzt das bekannteste Familiendrama der Weltgeschichte. Als Kriegsbeute bringt Agamemnon eine Trojanerin namens Kassandra (Sepideh Tafazzoli) mit, die von den Göttern die Gabe der Vorhersage erhalten hat, allerdings mit der Einschränkung, dass ihr niemand zuhören wird. Klytaimnestra sieht in der neuen Frau im Haus eine Konkurrentin. Neben der Trauer wegen des Verlustes ihres Kindes, schmiegt sich nun noch Eifersucht in Klytaimnestras gebeuteltes Herz. Es kommt zum Mord an Agamemnon und mit ihm endet auch das kurze Leben der armen Kassandra. Doch damit ist der Rachezirkel noch nicht beendet.

Kassandra und Cilissa mögen sich nicht besonders. Foto: (c) Bastian Flassig

Aischylos, auf dessen Tragödie das Stück beruht, hatte damals schon verstanden, wie man die Abgründe der antiken Mythen für das Schauspiel nutzen kann. Wahrscheinlich hat es Icke daher bei den grundlegenden Beziehungen zwischen den Figuren sowie deren Motivationen belassen. Damals wie heute sind Liebe, Hass, verletzter Stolz, Verrat und Trauer die stärksten Triebkräfte hinter grausamen Taten. Dem Tod des Vaters folgt der Tod der Mutter – denn diese hat den Zorn ihrer Kinder auf sich gezogen, da sie den Vater tötete und sich dann noch einen Liebhaber ins Haus holte, der dem Vater verblüffend ähnelt (Tamer Afifi). Doch wer tötete die Mutter? Diesem Geheimnis versucht die Psychiaterin auf der Spur zu kommen oder ist sie längst im Bilde? War es Orestes, von seiner Schwester angestachelt, oder war es Elektra selbst, die die Mutter erstach, wie Orestes zwischenzeitlich behauptet?
Klytaimnestras Tod war ein „Overkill“ das Ensemble hat dafür täuschend echte Bilder einer Frauenleiche mit tiefen Stichwunden auf einem Obduktionsbildschirm gezeigt. Nichts für schwache Gemüter, aber eine interessante und radikale Idee. Dadurch bekommt der Tod der Mutter eine andere Schlagrichtung – Gewalt an (Ehe-)Frauen, die wegen angeblicher Fehler brutalst ermordet werden, kommen den Zuschauer*innen unweigerlich in den Sinn.

Neben der Psychiaterin gibt es noch zwei weitere Rollen, die in die heutige Zeit verweisen: Die des bereits erwähnten Interviewers (Konstantin Rasanis), der immer wieder Beteiligte mit recht plumpen Fragen belästigt und so beim Publikum für eine heitere Stimmung sorgt sowie die Haushälterin Cilissa (Sabine Becker-Hogenschurz). Sie beobachtet die zunehmen bedrohlichere Atmosphäre im Haus, scheint von den Gefühlen und der Gedanken der Hausbewohner zu wissen und wird später zu einer Erinnye; jenes Wesen, das die Menschen in den Wahnsinn treibt, der personifizierte Gewissensbiss – eine Rachegöttin. Wie der Urteilsspruch über Orestes verhängt wird, soll hier ein Geheimnis bleiben. Nachzulesen bei Aischylos oder Icke.

Esther Takats, die in ihrer Doppelrolle als Regisseurin und in der Rolle der Klytaimnestra sicher einiges an Arbeit hatte, hat eine reizende Inszenierung auf die Bühne gebracht. Bruno Kaut als Orestes stellt den in sich zurückgezogenen Sohn des verfluchten Hauses von jung unbedarft und „Papa-Söhnchen“ bis hin zum vom Hass vernebelten Rachegeist hervorragend dar. Doch auch Lisa Pohlers Elektra, ein bockiger Teenie, die es ihrem Vater nie recht machen kann und doch womöglich am meisten an ihm hängt und Hanna Schäfers leicht verzogene Iphigenie, die zu ihrem Teddybären ein inniges Verhältnis hat, bilden ein dynamisches Team. In Erinnerung wird vor allem das Zwiegespräch zwischen Takats und Afifi bleiben, als sie um das Schicksal ihrer Tochter ringen.
Wenn man diese Laiengruppen auf der Bühne spielen sieht, ist man jedes Mal traurig, dass es nur so wenig Vorstellungen gibt, obwohl so viel Arbeit in ihren Inszenierungen steckt.

Rebecca Telöken

Die Gerichtsverhandlung – hat Orestes (vorne) Schuld am Tod seiner Mutter?